FENSTER ZUR FILMWELT: VIELFALT, KUNST UND BEGEGNUNGEN IM KINOK.
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Normal: CHF 17.-
Mitglieder: CHF 12.-
Montagskino: CHF 12.-
Schüler:innen, Lernende, Studierende bis 26 Jahre: CHF 13.-
Kinder bis 12 Jahre: CHF 10.-
IV-Bezüger:innen: CHF 12.-
KulturLegi-Inhaber:innen: CHF 7.-
Mittwochnachmittagskino: CHF 12.- für AHV-Bezüger:innen
Freier Eintritt für Asylsuchende und vorläufig Aufgenommene (Ausweis N/F/S)
Sie war Hauptdarstellerin im ersten deutschen Nachkriegsfilm, glänzte in Hollywood und am Broadway, kehrte in die muffige BRD der 1950er-Jahre zurück und feierte hier Triumphe als Schauspielerin, Chansonsängerin und Bestsellerautorin: die grosse Hildegard Knef (1925–2002). Sechs Jahrzehnte lang war die Frau mit der rauchigen Stimme eine öffentliche Person und liess über die Medien nicht nur an ihren Erfolgen und Misserfolgen, sondern auch an ihrer Krebserkrankung und ihrem späten Facelifting teilhaben: «In meinem Beruf wird Zeitlosigkeit abverlangt – was bei Männern nie verlangt wird.» Auch sonst nahm sie, die mit «Für mich soll’s rote Rosen regnen» einen Hit für die Ewigkeit schuf, nie ein Blatt vor den Mund und wurde damit zum Vorbild für Generationen von Frauen. Aus grösstenteils unbekanntem Archivmaterial und aktuellen Interviews mit Knefs Tochter Christina Palastanga und ihrem letzten Lebensgefährten Paul von Schell hat die in Köln lebende, gebürtige Zugerin Luzia Schmid einen so faszinierenden wie emotional starken Film über eine Frau und Diva geschaffen, der auch als schillerndes Zeitdokument über die alte BRD funktioniert. Christian Schröder schreibt im Tagesspiegel: «Das ist kein geglättetes Porträt. Es zeigt eine Frau voller Widersprüche. Niederknien möchte man trotzdem vor ihr.»
Bis in die 1980er-Jahre wurden in der Schweiz hunderttausende Kinder von den Behörden oder ihren Familien in Heimen oder als Verdingkinder bei Bauernfamilien platziert. Die Berner Regisseurin Corinne Kuenzli dokumentiert in ihrem Film einige dieser schweren Schicksale und bringt dabei die Albträume, Familiengeheimnisse und die von Einsamkeit, Gewalt und Sprachlosigkeit geprägte Kindheit und Jugend dieser ehemaligen Heim- und Verdingkinder ans Licht, sowie die Auswirkungen auf deren Söhne und Töchter. Gemeinsam suchen sie nach Akten in Archiven von Vormundschaftsbehörden und Sozialämtern, durchstöbern Dokumente, studieren Fotoalben und stossen dabei immer wieder auf unglaubliche Zeugnisse einer bigotten und heuchlerischen Gesellschaft. So etwa, wenn ein heute 82-Jähriger, der als Baby seiner damals zwanzigjährigen, mittellosen Mutter weggenommen und an neun verschiedenen Orten fremdplatziert worden war, in den Akten liest, die Mutter «scheint überhaupt einen unsittlichen Lebenswandel zu führen». Dass der Bundesrat erst 2013 das an diesen Kindern verübte Unrecht anerkannte und sie um Verzeihung bat und dass die Genugtuungszahlungen sich bis ins Jahr 2024 hinzogen, erfährt man am Ende dieses unter die Haut gehenden Films. Eindrücklich dokumentiert er einen übergriffigen und hartherzigen Staat, dessen Opfer sowie deren Kinder bis heute mit den Folgen zu kämpfen haben.
Agathe arbeitet in der legendären Pariser Buchhandlung Shakespeare and Company, träumt von der Liebe und schreibt heimlich an ihrem ersten Roman. Als leidenschaftliche Jane-Austen-Verehrerin hat sie für alle Lebenslagen die passende Lektüreempfehlung ihrer geliebten Autorin parat. Agathe quält das Gefühl, im falschen Jahrhundert zu leben, so unromantisch und plump erscheint ihr der Umgang unter den Geschlechtern: «Sex Uber ist nicht mein Ding», gesteht sie ihrem Arbeitskollegen Félix entnervt. Als dieser ohne ihr Wissen das erste Kapitel ihres Romans bei einer Ausschreibung einreicht, gewinnt Agathe zwei Wochen in der Jane Austen Writers’ Residency in England. Dort wartet nicht nur eine Auszeit in schönster Kulisse auf sie, sondern auch Austens Ur-Ur-Ur-Ur-Neffe Oliver. Schon bald steckt die angehende Schriftstellerin mitten in einem Roman ihrer Lieblingsautorin – zwischen Stolz, Vorurteil und vielleicht der grossen Liebe. Regisseurin Laura Piani liefert eine so charmante wie humorvolle Hommage an die literarische Grossmeisterin, deren 250. Geburtstag dieses Jahr gefeiert wird. Mit ihrer Version eines Jane-Austen-Romans gelingt Piani eine leichtfüssige Mischung aus französischer und englischer Komödie mit einer bravourösen Camille Rutherford in der Hauptrolle.
Zürich, 1948: Der amerikanische Abenteurer und Höhlenforscher James Larkin White sitzt im Polizeigefängnis in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen, seinen Pass gefälscht zu haben und in Wirklichkeit Anatol Stiller zu sein, ein seit sieben Jahren verschwundener Zürcher Bildhauer, der an der Ermordung eines russischen Dissidenten beteiligt gewesen sein soll. Da White auf seiner Identität beharrt und die Vorwürfe vehement zurückweist, veranlasst der Staatsanwalt eine Gegenüberstellung mit Stillers Ehefrau Julika. Doch auch sie, eine ehemalige Balletttänzerin, die wegen einer Tuberkuloseerkrankung ihre Karriere aufgeben musste, kann den Mann nach so vielen Jahren nicht zweifelsfrei identifizieren. Ein Verwirrspiel um Identität, Männerbilder und Wahrheitsfindung nimmt seinen Lauf, in das noch mehrere weitere Figuren hineingezogen werden, wie etwa die Gattin des Staatsanwalts oder Whites Verteidiger. Der Zürcher Regisseur Stefan Haupt («Zwingli») hat sich mit seiner mit Spannung erwarteten Verfilmung an eines der wichtigsten Werke Max Frischs gewagt, mit dem dem Autor 1954 der literarische Durchbruch gelang. Für sein elegant erzähltes, liebevoll ausgestattetes und virtuos die Zeitebenen wechselndes Vexierspiel hat Haupt ein schweizerisch-deutsches Starensemble aufgeboten, das seinesgleichen sucht und zu Höchstform aufläuft.
Der Automechaniker Vahid glaubt, in einem Kunden seinen einstigen Folterer aus dem Gefängnis zu erkennen. Er entführt den Mann in der Absicht, ihn in der Wüste lebendig zu begraben. Doch kurz vor der Tat beschleichen ihn Zweifel, weil er das Gesicht seines Peinigers nie gesehen hat. Er sucht einen ehemaligen Leidensgenossen auf, der die Identität des Entführten bestätigen soll, und setzt damit eine Kette von Ereignissen in Gang, die zunehmend ausser Kontrolle geraten … Der iranische Regisseur Jafar Panahi war 2022 inhaftiert, als er die Idee zu diesem Drehbuch hatte. Als er im Februar 2023 dank internationaler Proteste freikam, machte er sich heimlich an die Realisierung dieses atemberaubenden Thrillers, der trotz seines dramatischen Hintergrunds mit Situationskomik und schwarzem Humor brilliert und in Cannes zu Recht die Palme d’Or erhielt. Joachim Kurz schreibt auf Kino-Zeit: «Panahis emotional aufwühlende Tour de Force ist nicht ausschliesslich als Parabel auf die Zustände in seiner Heimat zu verstehen, sondern auch als Suche nach einem moralischen Kompass für die direkte Konfrontation mit den Autoritäten. Angesichts dessen, was ihm widerfahren ist, (…) ist dieser Film ein beispielloses Fanal von ungeheurem Mut und Behauptungswillen eines Regisseurs.»
Die ehrgeizige Köchin Cécile steht kurz davor, mit ihrem Lebenspartner Sofiane ein eigenes Gourmetrestaurant in Paris zu eröffnen. Als sie gerade mit Entsetzen festgestellt hat, dass sie ungewollt schwanger ist, erreicht sie auch noch die Nachricht, dass ihr Vater einen Herzinfarkt erlitten hat. Cécile sieht sich gezwungen, einige Tage in ihr Heimatdorf zurückzukehren und im Hotelrestaurant für Fernfahrer auszuhelfen, das ihre Eltern betreiben. Im Mief der Provinz, vor dem sie einst geflohen ist, hat sie nicht nur mit ihrem sturen Vater zu kämpfen, der sich selbst aus dem Krankenhaus entlassen hat und nicht daran denkt, sich zur Ruhe zu setzen. Sie trifft auch auf ihren Jugendschwarm Raphaël – und längst verdrängte Gefühle kommen wieder hoch … Mit ihrem hinreissenden Spielfilmdebüt, das dieses Jahr das Filmfestival von Cannes eröffnete, ist Amélie Bonnin ein zärtlich-melancholischer Gute-Laune-Film über die Rückkehr zu den Wurzeln gelungen. Ein Musical obendrein, denn wenn die Gefühle zu köcheln beginnen, wird Chanson-Karaoke angestimmt. «Der Clou aber sind die Songs, kurze, scheinbar spontane Gesangs- und Tanzeinlagen zu bekannten Stücken, die sich nahtlos in die Geschichte einfügen», schreibt Joachim Kurz auf Kino-Zeit. In der Hauptrolle glänzt die wunderbare Juliette Armanet, die in Frankreich ein grosser Popstar ist.
Als Italien im Sommer 2022 unter der Dürre leidet, scheint auch die Quelle beim Haus von Paolo Cognetti im auf 1700 Metern gelegenen Dörfchen Estoul im Aostatal zu versiegen. Dieses untrügliche Zeichen des Klimawandels veranlasst den 47-jährigen italienischen Bestsellerautor («Le otto montagne») und erfahrenen Alpinisten zu einer ausgedehnten Bergtour in sein geliebtes Monte-Rosa-Massiv. In Begleitung seines treuen Border Collies Laki folgt er den Spuren des Wassers, weit hinauf zu einsamen Bergseen, schmelzenden Gletschern und hochgelegenen Schutzhütten. In seinem Regiedebüt «Fiore mio» kehrt Cognetti in die Bergwelt seiner Kindheit zurück, die auch Schauplatz der erfolgreichen Verfilmung seines Romans war, und zeigt eine alpine Landschaft im Wandel. Der Film lädt zum Beobachten und Innehalten ein und erzählt in atemraubenden Bildern von eindrücklichen Begegnungen mit Menschen und Tieren. Paolo Mereghetti schreibt im Corriere della sera: «‹Fiore mio› ist ein Dokumentarfilm, der von den Bergen erzählt, aber auch eine Art öffentliches Tagebuch, das Ökologie, existenzielle Überlegungen und anthropologische Untersuchungen miteinander verbindet.» Das Fazit der kanadischen Forstwissenschaftlerin Suzanne Simard lautet: «Dieser Film handelt nicht davon, wie wir den Berg retten können, sondern davon, wie der Berg uns retten könnte.»
«Die Zukunft gehört allen.» Mit diesen salbungsvollen Worten preist die brasilianische Regierung ihre Anordnung an: Alle Menschen über 75 sollen in eine abgelegene Senior:innenresidenz ziehen, um dort ihren Lebensabend zu geniessen. Die 77-jährige Tereza, die ihr ganzes Leben in einer kleinen Industriestadt verbracht hat, weigert sich, dieses aufgezwungene Schicksal zu akzeptieren. Sie möchte sich endlich ihren Traum von einer Flugreise erfüllen. Als ihr im Reisebüro, in dem sie einen Flug – egal wohin – buchen möchte, beschieden wird, dass sie vom Fliegen ausgeschlossen ist, schafft sie es mit List auf ein Boot. Gemeinsam mit einem schrulligen Bootsführer beginnt eine Reise, die an immer geheimnisvollere Orte führt. «Tereza – O último azul» war der Publikumsliebling der diesjährigen Berlinale und wurde mit dem Grossen Jurypreis und dem Preis der Ökumenischen Jury ausgezeichnet. Thomas Abeltshauser schreibt in epd Film: «Für seinen magischen Realismus findet Gabriel Mascaro eigenwillig poetische Metaphern und Bilder, (…) die zu entdecken einen grossen Teil des Vergnügens an diesem originellen, immer wieder überraschenden Film ausmacht. (…) Die Flusslandschaft des Amazonas und das faszinierende Licht fängt Kameramann Guillermo Garza in beeindruckenden Panoramen ein, auch die Nacht bringt er in seinen atmosphärisch dichten Bildern zum Flirren.»
Im besetzten Westjordanland schliesst sich der junge Noor 1988 einer Protestkundgebung an und wird von einem israelischen Soldaten niedergeschossen. Um zu erklären, wie es dazu kommen konnte, nimmt uns seine Mutter Hanan mit auf eine Reise durch mehrere Jahrzehnte und schildert die bewegende Geschichte ihrer Familie. Von der Vertreibung 1948 aus Jaffa, als Noors Grossvater Sharif mit Frau und Kindern sein stattliches Haus und den Orangenhain der Familie zurücklassen musste und ins Exil gezwungen wurde. Von Noors Vater Salim, der als Kind die Schrecken der Flucht erlebte und in den 1970er-Jahren vor den Augen seines Sohnes Opfer von Gewalt und Demütigung wurde. Vom unermüdlichen Kampf gegen Unterdrückung und vom Ringen um Resilienz, die sich wie ein roter Faden durch die Chronik der Familie bis in die Gegenwart ziehen … Inspiriert von ihrer eigenen Familiengeschichte gelingt der palästinensisch-amerikanischen Regisseurin Cherien Dabis ein tief bewegendes Epos über das generationsübergreifende Trauma der Palästinenser:innen. Mit stiller Kraft und grosser Empathie erzählt sie von drei Generationen im Schatten von Vertreibung, Widerstand und Hoffnung. Dabei verwebt sie persönliche Erinnerung und politische Realität zu einem feinfühligen Plädoyer für Menschlichkeit – und zeigt eindrücklich, wie tief die Wurzeln heutiger Konflikte reichen.
Klawdija Wawilowa, eine Kommissarin der Roten Armee, wird im Polnisch-Sowjetischen Krieg 1920 ungewollt schwanger. Für die Niederkunft wird sie von ihrer Einheit beurlaubt und in einer Kleinstadt zurückgelassen. Sie findet Unterschlupf bei einer kinderreichen jüdischen Familie, wo sie mit neuen Erfahrungen wie Geburt und Mutterschaft, aber auch mit Gefühlen der Ohnmacht und dem Leid der Zivilbevölkerung konfrontiert wird. Mit der Gastfamilie teilt sie die Sorgen des Alltags und angstvolle Nächte. Basierend auf einer in den 1920er-Jahren verfassten Geschichte des verfemten jüdischen Schriftstellers Wassili Grossman realisierte der sowjetische Film- und Theaterkritiker Alexander Askoldow 1967 sein Spielfilmdebüt. «Die Kommissarin» wurde sofort nach der Fertigstellung von der Zensur verboten, Askoldow erhielt ein lebenslanges Berufsverbot, wurde aus der Partei ausgeschlossen und wegen Vergeudung staatlicher Gelder angeklagt. Sämtliche Kopien des Films sollten vernichtet werden. «Die Kommissarin» blieb Askoldows einziger Film und kam erst zwanzig Jahre später zur Aufführung. Nicht nur das Berlinale- und Locarno-, sondern auch das Kinok-Publikum war erschüttert, als es den Film endlich sehen konnte. Was für ein Meisterwerk! Und Askoldow, was für ein Talent! Was muss es für den Regisseur bedeutet haben, nie mehr einen Film drehen zu können.
Amrum, 1945: Der zwölfjährige Nanning ist mit seiner hochschwangeren Mutter, seinen jüngeren Geschwistern und einer Tante aus dem zerbombten Hamburg ins Elternhaus seines Vaters geflüchtet, der sich in Kriegsgefangenschaft befindet. Die Inselgemeinschaft blickt mit Misstrauen auf die «Festländer», zudem sind Nannings Eltern überzeugte Nazis. Nach Hitlers Selbstmord und der Geburt ihres Kindes fällt die Mutter in eine Depression. Sie will nichts mehr essen ausser Weissbrot, Butter und Honig. Damit sie wieder zu Kräften kommt, setzt Nanning alles in Bewegung, um ihr diesen Wunsch zu erfüllen – in den ersten Nachkriegstagen ein schwieriges Unterfangen. Dabei kommt er einem Familiengeheimnis auf die Spur und wird sich zum ersten Mal bewusst, was es bedeutet, dass die geliebten Eltern Nationalsozialist:innen waren. Fatih Akin («Gegen die Wand») hat mit Hark Bohm («Nordsee ist Mordsee») das Drehbuch geschrieben und für den Freund, der krankheitshalber absagen musste, die Regie geführt. Susanne von Kessel-Doelle schreibt in Blickpunkt:Film: «Fatih Akin schafft es, in der Kindheitsgeschichte Hark Bohms die ganze Tragik einer Generation einzufangen – zutiefst treffend und anrührend in einer Heimatgeschichte, mit Parallelen zu heute und Bildern, die den Zuschauer die Weite Amrums genauso fühlen lassen wie das Innenleben seiner Charaktere.»
Das Mädchen Alma wächst um 1910 auf einem abgelegenen Gutshof in der Altmark auf. Als sie eine Fotografie ihrer früh verstorbenen Schwester entdeckt, ist sie überzeugt, bald dasselbe Schicksal zu erleiden. Jahrzehnte später, am Ende des Zweiten Weltkriegs, lebt die pubertierende Erika auf dem Hof und entwickelt eine erotische Faszination für ihren kriegsversehrten Onkel. In den 1980er-Jahren entdeckt Angelika, die Tochter von Erikas Schwester, ihre Sexualität und macht traumatische Erfahrungen. In der Gegenwart sind die Schwestern Nelly und Lenka mit ihren Berliner Eltern auf den mittlerweile heruntergekommenen Hof gezogen und werden von Träumen heimgesucht, die mit den anderen drei Mädchen in Verbindung stehen. Regisseurin Mascha Schilinski begeisterte mit ihrem epochalen Film beim diesjährigen Festival von Cannes. Das überwältigende Werk, eine Entdeckungsreise durch die feinsten Verzweigungen der Gefühlswelten über vier Generationen, wurde von der Kritik gefeiert und mit dem Jurypreis ausgezeichnet. Katja Nicodemus schreibt in Die Zeit: «Dieser Film ist eine Sensation. Mit seiner assoziativen Montage erzählt er nicht nur von einem Ort, sondern von einer einzigen, aus mehreren Frauen, Mädchen und Erinnerungen bestehenden Person und einer einzigen, aus mehreren Zeitlichkeiten zusammenfliessenden Gegenwart.»
Wie durch ein Wunder überlebt die Klavierstudentin Laura einen schweren Autounfall. Körperlich unversehrt, aber innerlich aus der Bahn geworfen, kommt sie bei Betty unter, die das Unglück beobachtet hat. Vom ersten Moment an verbindet die beiden eine tiefe Zuneigung. Laura geniesst Bettys mütterliche Fürsorge, die Besuche in der Werkstatt von Bettys Ehemann und Sohn, die Arbeit im Garten. Es ist eine unbeschwerte, glückliche Zeit des Zusammenseins, ein Spätsommertraum, dem sich Laura und die Familie nur zu gerne überlassen. Doch da schwelt ein dunkler Schmerz, der sie alle verbindet und doch unausgesprochen bleibt … Im neuen Film von Ausnahmeregisseur Christian Petzold erkennt man nicht nur Schauspieler:innen, sondern auch Motive seiner früheren Werke wieder. Benannt nach einem Klavierstück von Maurice Ravel, ist «Miroirs No. 3» nach «Undine» und «Roter Himmel» der Abschluss seiner Trilogie über die Elemente. Nach Wasser und Feuer ist es hier die Luft, in der die zwei Frauen nach ihren Verlusterfahrungen zu schweben scheinen – in einem atmosphärisch leichten Sommerfilm, in dem sich vier Menschen behutsam einander annähern. Getragen vom sensiblen Spiel seiner fantastischen Darsteller:innen, erzählt Petzold berührend und zärtlich von der Fragilität des Lebens, der Überwindung der Verzweiflung, von Verlust, Schmerz und Liebe.
Die Heilandsfigur des 42. Kruzifixes eines bayerischen Frauenklosters steigt vom Kreuz, wird Ober in der Klosterschnenke und Gefährte der Oberin. Die gutmütig-naive Jesus-Figur entdeckt neugierig die absurde Welt, erlebt allerlei groteske Situationen und zeigt sich von der Moderne überfordert. «Hinter der Clownmaske des Hauptdarstellers verbergen sich tiefe Betroffenheit und profunde Skepsis angesichts versteinerter politisch-kultureller Verhältnisse in der Bundesrepublik», hiess es damals in Religion im Film. Herbert Achternbuschs provokative Satire auf Kirche und Staat verursachte heftige Gegenreaktionen von deutschen Bischöfen, der Staatsanwaltschaft und dem Bundesinnenminister. Doch der Versuch eines bundesweiten Verbots scheiterte. In der Schweiz hingegen war «Das Gespenst» zeitweilig verboten, nachdem der Film in Zürich aufgrund einer Anzeige beschlagnahmt worden war. Erst Jahre später, nach dem Freispruch durch das Bundesgericht, kam «Das Gespenst» 1986 in die Schweizer Kinos. Als die umstrittene Tragikomödie im Juni im Kinok gezeigt wurde, war das Interesse gross: Zehn beinahe ausverkaufte Vorstellungen sprechen für sich. Und das trotz ungewöhnlichen Protestes: Vor jeder Vorstellung standen zwei Nonnen am Kinok-Eingang an der Grossackerstrasse – sie warnten das Publikum eindringlich vor dem Film und rieten vom Besuch ab.
Die gehörlose Ángela ist Künstlerin und Töpferin und lebt in einer liebevollen Ehe mit ihrem hörenden Mann Héctor, der für sie die Gebärdensprache gelernt hat. Als Ángela schwanger wird, sind die beiden überglücklich. Doch gleichzeitig wächst in ihnen die Sorge, ob ihr Kind ebenfalls gehörlos sein wird. Nachdem sich diese Ängste nach Monaten bangen Wartens als unbegründet erwiesen haben, sieht sich Ángela mit ungeahnten Problemen konfrontiert. Denn sie bekommt zu spüren, dass die Gesellschaft ihr als gehörloser Mutter jede Menge Steine in den Weg legt … Aufmerksam, ungeschönt und voller zärtlichem Verständnis erzählt Drehbuchautorin und Regisseurin Eva Libertad von der Realität einer gehörlosen Frau in einer Welt voller Hindernisse, von der Angst, aus der Welt ihres hörenden Kindes ausgeschlossen zu sein, von Respekt und Differenzen, von Liebe und Zerreissproben. Ganz aus der Perspektive ihrer beeinträchtigten Protagonistin heraus macht sie deren Schwierigkeiten in einer Welt, die von Hörenden für Hörende gemacht ist, erfahrbar – und eroberte damit nicht nur auf der Berlinale, wo sie dieses Jahr mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde, die Herzen im Sturm. In der Hauptrolle brilliert Eva Libertads Schwester Miriam Garlo, die – selbst gehörlos – Inspiration für das berührende Drama war.
Der Schweizer Musiker Dino Brandão reist für ein Konzert nach Angola, das Heimatland seines Vaters. Die Konfrontation mit seiner Herkunft und der eigenen Identität löst eine manische Episode bei ihm aus. Regisseur Moris Freiburghaus, den eine langjährige Freundschaft mit Dino verbindet, gelingt mit «I Love You, I Leave You» ein zutiefst persönlicher und einfühlsamer Dokumentarfilm über dessen bipolare Störung und die emotionale Achterbahnfahrt, die er und sein Umfeld gemeinsam durchleben: Was passiert, wenn der beste Freund psychisch erkrankt? Wie geht man damit um, und wie erlebt die betroffene Person selbst diesen Ausnahmezustand? Dino Brandão, international bekannt durch seine Zusammenarbeit mit Sophie Hunger und Faber, komponierte den Soundtrack zum Film. Das Regiedebüt des Zürchers Moris Freiburghaus räumte am diesjährigen Zurich Film Festival gleich zweimal ab: Es gewann den Publikumspreis und den Preis für den besten Dokumentarfilm. Die Jury lobt: «Wir haben noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Der unverblümte Blick auf psychische Erkrankungen und die unerschütterlichen Bindungen von Freundschaft und Familie haben uns dazu veranlasst, das Goldene Auge in dieser Kategorie zum ersten Mal an eine Schweizer Produktion zu vergeben.»
Acht Jahre bevor Merian C. Cooper und Kameramann Ernest B. Schoedsack mit «King Kong» berühmt wurden, drehten sie 1925 ihren ersten Film – einen Dokumentarfilm, der einem die Sprache verschlägt. Er dokumentiert die Wanderung des südiranischen Stammes der Bachtiar:innen, die mit ihren Tieren in einem entbehrungsreichen Marsch vom Persischen Golf auf die Sommerweiden des zentralen persischen Hochplateaus ziehen. Der 48-tägige Treck, bei dem sie einen reissenden Fluss und über 3000 Meter hohe, schneebedeckte Pässe überqueren, ist voller Strapazen. Der Film zeigt die extremen Härten des Nomadenlebens, aber auch den ausserordentlichen Mut und Einfallsreichtum der Nomad:innen. «Grass» ist ein grandioser Schwarz-Weiss-Film mit ungeheurer Bildkraft. Ein Teil der Bachtiar:innen lebt bis heute nomadisch und unternimmt diese Wanderung, die als eine der spektakulärsten Migrationen der Welt gilt, noch immer zweimal jährlich. Obwohl teilweise Strassen gebaut wurden, ist heute vieles noch so wie vor hundert Jahren. Die von Sven Bösiger live begleitete Vorführung im Provisorium der Lokremise im November 2008 war ein Ereignis. Der Klangkünstler hat mit seiner Vertonung eine Atmosphäre geschaffen, die fast vergessen liess, dass es sich bei «Grass» um einen Stummfilm handelt. Wir freuen uns, dass er sich zu unserem Jubiläum noch einmal auf dieses Wagnis einlässt.
Grace und Jackson, zwei frei denkende Künstlernaturen, ziehen in ein abgelegenes Haus auf dem Land, um einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Doch so stimulierend die selbstgewählte Einsamkeit anfangs auf das junge Paar wirkt – als ihr erstes Kind zur Welt kommt und Jackson arbeitshalber immer öfter unterwegs ist, brauen sich in Grace Gefühle der Isolation, Eifersucht und Verzweiflung zu einer explosiven Mischung zusammen, die sich in einem zunehmend erratischen Verhalten entlädt … Mit einer fulminanten Jennifer Lawrence in der Hauptrolle gelingt Regisseurin Lynne Ramsay ein formal wie thematisch hemmungslos radikales Porträt einer Frau, die zwischen Liebe und Wahnsinn zu zerreissen droht. Michael Meyns schreibt auf Programmkino: «Hätte ein Mann diesen Film gedreht, würde man ihm vorhalten, sich am zunehmend labilen Zustand einer langsam in eine Psychose abdriftenden Frau zu laben. Unter der Regie von Lynne Ramsay wirkt ‹Die My Love› jedoch bei allem Exzess wie ein sensibler, zunehmend tragischer Blick auf eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs, die sich vehement den von Männern gemachten Konventionen widersetzt. Dass es am Ende die Regisseurin selbst ist, die eine wunderbar sanfte Version des legendären Joy-Divison-Songs Love Will Tear Us Apart singt, bringt die Intentionen dieses oft anstrengenden, aber ebenso mitreissenden Films auf den Punkt.»
Tony besitzt eine aussergewöhnliche Gabe: Er leuchtet von innen. Um ihn zu schützen, lassen seine Eltern ihn kaum aus der Wohnung. Doch der Junge sehnt sich danach, das Mietshaus zu erkunden, mit anderen Kindern zu spielen und Abenteuer zu erleben. Als ein Mädchen mit seiner Mutter einzieht, ist Tony begeistert. Shelly tobt durchs Treppenhaus, ist freundlich und findet Tony sofort cool. Wenn Shelly mit ihrer Taschenlampe ins Dunkel leuchtet, erscheinen Fantasiegebilde, die nur sie sieht. Mit Tony gibt es nun jemanden, der ihre magische Welt ebenfalls wahrnimmt. Gemeinsam entdecken die Kinder den üblen Geist des Hauses, der Dunkelheit und schlechte Stimmung verbreitet. Tschechische Kinderfilme geniessen einen hervorragenden Ruf und stehen in einer langen Tradition. Daran knüpft Regisseur Filip Pošivač mit seinem detailverliebten Puppen-Animationsfilm erfolgreich an und erschafft eine wundervoll ambivalente Welt zwischen Düsternis und Licht. Die Gruselelemente setzen einen «erfahrenen Umgang mit Film voraus», rät Vision Kino. «Eine mystische Geschichte, die die Macht der Fantasie feiert und nicht nur Kinder, sondern auch ein erwachsenes Publikum in eine wunderbare Puppentrickwelt eintauchen lässt», schreibt Katrin Hoffmann in epd Film.
Er war ein Versicherungsjurist, der das Schreiben und die Verantwortung als Sohn und zukünftiger Ehemann in einem konservativen Prager Elternhaus am Rande des Ersten Weltkriegs unter einen Hut bringen musste. Dabei besass er, wie keiner je zuvor, ein Talent für die Verschmelzung von Realismus und Fantasie samt brutal formulierter Verzerrungen von Bürokratien und Menschen, die in surrealen Situationen stecken oder tödliche Kämpfe ausfechten müssen – so wie er selbst gegen die Tuberkulose. Die Rede ist von Franz Kafka, dem wir anlässlich seines 100. Todestages im Juni 2024 eine Reihe gewidmet haben. Nun ist die polnische Meisterregisseurin Agnieszka Holland das Wagnis eingegangen, sich Kafka in einem essayistischen, nicht-linearen Biopic anzunähern. Mit dem 1997 geborenen, noch kaum bekannten deutschen Schauspieler Idan Weiss als Kafka pendelt der Film virtuos zwischen dem so reichen wie flüchtigen Leben des Jahrhundertliteraten und einer dokumentierten Gegenwart, in der mit seinem Namen alles Mögliche verkauft wird: von Hamburgern über Schlüsselanhänger bis zu Ostereiern – eine Wendung, die kafkaesker kaum sein könnte. Übertroffen wird diese von der Tatsache, dass das Verhältnis der von Kafka geschriebenen zu den über ihn geschriebenen Worten eins zu zehn Millionen beträgt – ein Hype, den der Film so geschickt wie elegant umschifft.
Als wäre es nicht weiter verwunderlich, wacht der im 16. Jahrhundert geborene und immer jung gebliebene Edelmann Orlando zu Beginn des 18. Jahrhunderts unvermittelt als Frau auf, betrachtet sich im Spiegel und meint mit einem direkten Blick in die Kamera: «Same person. No difference at all. Just a different sex.» Orlandos geschlechtsgebundene Erfahrungen sind ein ironisch-kritisches Spiegelbild der gesellschaftlichen Vorherrschaft des Mannes und des wachsenden emanzipatorischen Bewusstseins der Frau. Aus Virginia Woolfs 1928 veröffentlichtem Roman machte Regisseurin Sally Potter einen kongenialen, opulent ausgestatteten Kinofilm, der das Publikum durch vier Jahrhunderte bis in die Gegenwart führt. Frauen hinter der Kamera war eine Initiative von filminteressierten Frauen aus dem Kinok-Umfeld, darunter Kinok-Mitbegründerin Monika Lieberherr. 1991 begannen sie, die Filmgeschichte von Regisseurinnen aufzuarbeiten und regelmässig Werke von Filmemacherinnen zu zeigen – ein hart erkämpfter Programmplatz. Dank ihnen waren auch Sally Potters erste Filme, «The Gold Diggers» und «I Am an Ox, I Am a Horse, I Am a Man, I Am a Woman», im Kinok zu sehen. Die erste Begegnung mit «Orlando» war für die Kuratorinnen ein Ereignis. Unterdessen ist Sally Potters Werk zum Kultfilm avanciert, die damals 32-jährige Tilda Swinton längst ein Star.
Chung-King-Ex-Press! Nur schon der Titel ist ein Versprechen. Als wir den Film im November 1995 zeigten, waren wir hin und weg: So etwas hatten wir noch nie gesehen! Die Bildsprache mit der unruhigen, fast schwindelerregenden Kamera von Christopher Doyle entwickelt einen unglaublichen Sog. In ihrer Rastlosigkeit und verzweifelten Sehnsucht spiegelt die Geschichte die Hektik, aber auch die Poesie und Zärtlichkeit von Hongkong. Der Soundtrack trägt entscheidend zur hypnotischen, somnambulen Wirkung des Films bei. Inspiriert von einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami erzählt «Chungking Express» die unglücklichen Liebesgeschichten zweier junger Polizisten, die sich an ihrem Lieblingsimbiss in Hongkong kreuzen. In Guerilla-Manier in nur drei Monaten gedreht, verhalf dieses delirierende Meisterwerk Wong Kar-Wai zum Durchbruch im westlichen Kino. «Wir arbeiteten mit einem sehr knappen Budget und nannten uns CNN. Wir brachten einfach die Kamera mit und drehten, ohne Genehmigungen, ohne Lizenz, so dass es jeden Tag wie die Planung eines Raubüberfalls war», erzählt der Regisseur in einem Interview. «Chungking Express» ist ein Schlüsselwerk des Hongkong-Kinos, das dem Westen die Augen für dieses spezielle Filmschaffen öffnete. Ihm folgten viele weitere herausragende Werke, die uns später veranlassten, dem Hongkong-Kino eine Filmreihe zu widmen.
Die bewunderte Sängerin Cléo wartet an einem Mittwochnachmittag zwischen 17.05 Uhr und 18.30 Uhr auf die Resultate einer Krebsuntersuchung. Um ihre Angst in Schach zu halten, streift sie ziellos durch Paris. Agnès Varda hat «Cléo de 5 à 7» 1961 mit minimalem Budget und einfachsten Mitteln an Originalschauplätzen gedreht. Der Film ist ein präzises Zeitbild der französischen Hauptstadt zu Beginn der 1960er-Jahre und verdichtet in Echtzeit ein ganzes Leben. Die flirrend leichte Art, wie aus kleinsten Alltagsbeobachtungen reine Poesie entsteht, macht «Cléo de 5 à 7» zu Vardas schönstem Werk. Als einzige Regisseurin in der von Männern dominierten Bewegung schuf sie nicht nur einen Klassiker der Nouvelle Vague, sondern auch des feministischen Kinos, das von der Kinok-Gruppe Frauen hinter der Kamera aufgearbeitet wurde. Hingerissen bestaunt man die Eleganz, mit der die ausgebildete Fotografin Varda neunzig Minuten aus dem Leben einer Frau existenziell auslotet: In einer Schlüsselszene reisst sich Cléo Perücke und Federkleid vom Leib, Symbole ihrer Weiblichkeit, und geht danach, ganz in Schwarz gekleidet, zum ersten Mal allein. «Sie hört auf, ein Objekt zu sein, das durch den Blick der Männer konstruiert wird, und übernimmt die Macht des Blicks», so die Filmwissenschaftlerin Sandy Flitterman-Lewis. Berührend und meisterhaft.
Hermann Günther Gerber, der 1935 geborene Grossvater der Regisseurin, erlebte als Kind die NS-Diktatur. Der von ihm bewunderte ältere Bruder starb an der Front; der Vater, ein überzeugter Nazi, nahm sich nach Kriegsende das Leben. Als begeisterter Sportler machte Gerber in der jungen DDR Karriere, studierte an der Deutschen Hochschule für Körperkultur und wurde später ein bekannter Gynäkologe. Wie seine Frau, die er während des Studiums kennenlernte, war er überzeugter Kommunist und blieb es auch nach 1989. Schon seit Langem wollte seine Enkelin einen Dokumentarfilm über ihn realisieren, doch erst nach dem Tod der Grossmutter war dies möglich. Über mehrere Jahre tritt sie mit ihrem Grossvater in einen Dialog, bei dem spürbar wird, wie viel Ungesagtes zwischen den beiden schwelt. «Sedimente», ein Film über Erinnern, Vergessen und persönliche Verantwortung in einer Diktatur, beleuchtet mehrere Epochen der deutschen Geschichte: den Nationalsozialismus, die DDR und die Nachwendezeit. Michael Sennhauser schreibt in seinem Blog: «‹Sedimente› ist eine eindrückliche, eindringliche Arbeit. Laura Coppens trägt darin die Geschichte ihrer Familie über die Generationen und Diktaturen hinweg zusammen und anerkennt, dass diese Sedimente, diese Schichten sich zwar freilegen, aber nicht wegputzen lassen, schon gar nicht durch Schweigen.»
«Alles ist Kunst. Alles ist Politik» – mit diesem berühmten Statement des chinesischen Ausnahmekünstlers beginnt «Ai Weiwei’s Turandot», ein Dokumentarfilm über Ai Weiweis erste Operninszenierung. «Turandot», Puccinis letzte, unvollendet gebliebene Oper, erzählt die Geschichte der grausamen chinesischen Prinzessin Turandot. Jeder, der um ihre Hand anhält, muss drei Rätsel lösen oder sterben. Die berühmte Arie «Nessun dorma» gehört heute zum Standardrepertoire aller grossen Tenöre. In seinem Langfilmdebüt gibt Regisseur Maxim Derevianko, der seit 2015 für das römische Opernhaus Trailer und Streams realisiert, einen einzigartigen Einblick in Ai Weiweis Schaffensprozess und beleuchtet – anhand von Archivmaterial – auch relevante Ereignisse aus dessen Biografie. Helga-Mari Steininger schreibt im Programm des DOK.fest München: «Bekannt für seine politisch aufgeladenen Installationen sowie seine unermüdliche Kritik an Autoritäten, bringt Ai Weiwei seine Perspektive in die Welt der Oper ein. Coronakrise, Ukraine-Krieg, Proteste in Hongkong – in seiner radikalen Inszenierung dekonstruiert er die Erzählung, bricht Konventionen und nutzt die Bühne als Plattform für gesellschaftlichen Diskurs. Derevianko begleitet Ai Weiwei und das Ensemble bei der Entstehung einer bombastischen Neuinterpretation eines Klassikers.»
Die Filmkomödie erzählt haarsträubend witzig und schwarzgallig vom Ende der beschwingten Sixties. Im Herbst 1969 versuchen zwei arbeitslose Londoner Schauspieler und Trunkenbolde, Marwood und Withnail, mit einem Landurlaub ihrem hoffnungslosen Alltag in einer versifften Wohnung in Camden zu entkommen. Freilich geraten sie im Landhaus von Withnails gut situiertem Onkel Monty im Lake District vom Regen in die Traufe – allein schon, weil es auch hier ständig regnet und der Onkel partout mit Marwood schlafen will. Zurück in London, hat der philosophierende Drogendealer Danny (Spezialität ein Riesenjoint namens «Camberwell Carrot»!) die Wohnung übernommen und der Vermieter droht mit Zwangsräumung. Nicht zuletzt wegen seiner unzähligen Zitate, die teils sogar in die Umgangssprache eingegangen sind, gilt «Withnail and I» als britischer Kultfilm schlechthin; Regisseur Bruce Robinson und Richard E. Grant (dem sein dandyhafter Withnail zum Durchbruch verhalf) legten später mit der Werber-Satire «How to Get Ahead in Advertising» nach. Die Botschaft mit dem Hasen, die ein bedrohlicher Wilderer den Städtern an die Tür hängt, gab der Rorschacher Postpunk-Band eines Kinok-Beteiligten 1989 ihren Namen: Here Hare Here. Nur die erste von etlichen Bands, die ihren Namen diesem Film entlehnten.
Der Schafzuchtbetrieb der Familie Nystabakk im Norden Norwegens geht an die nächste Generation: Rakel und ihre Frau Ida übernehmen den kleinen Hof von Rakels Eltern. Dafür geben die jungen Frauen ihre Arbeit als Kulturschaffende in Oslo auf und stürzen sich in den herausfordernden Alltag einer naturnahen, nachhaltigen Landwirtschaft. Im Wissen, dass sie noch viel zu lernen haben, gehen sie ihre neue Aufgabe mit grossem Enthusiasmus, Humor, aber auch Respekt an und sind dankbar, auf die Erfahrung der Eltern zählen zu können, die ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Bald kennen sie jedes Tier mit Namen, und zwischen harter Arbeit, manch bedrückendem Rückschlag und schlaflosen Nächten erleben sie auch wahrhaft magische Momente. Über zwei Jahre begleitet Regisseurin Rebekka Nystabakk ihre Schwester Rakel bei diesem Übergang und fängt ein, wie traditionelles Wissen von einer Generation auf die nächste übergeht und weiterentwickelt wird. Zwischen Lämmern, Wiesen und Wetterumschwüngen entsteht ein warmherziges, intimes Porträt von Familie, Verantwortung und dem Glück, den eigenen Weg in vertrauten Fussstapfen zu finden. Ein leiser, berührender Film über eine immer seltener werdende Art der Landwirtschaft und ein Liebesbrief – an den Hof, an die Eltern, an bezaubernd bockige Schafe und an das Leben im Takt der Natur.
Wir laden zum grossen Fest in die Kunstzone der Lokremise – zu einer Live-Cinema-Performance des kanadisch-schweizerischen Regisseurs Peter Mettler, der dem Kinok seit seinen Anfängen verbunden ist. Im Zusammenspiel mit weiteren Künstler:innen entsteht eine frei improvisierte, einmalige Bild- und Klangperformance. Für unsere Jubiläumsfeier greift Mettler neben eigenem Filmmaterial erste Zelluloidbilder der Kinopioniere Auguste und Louis Lumière auf sowie Filmausschnitte des sowjetischen Kinorevolutionärs Dsiga Wertow, der für die Kinok-Gründer:innen von grosser Bedeutung war. Mettlers modernste Bildmischtechnologie, eine Eigenentwicklung, die ihm vergleichbare Improvisationsmöglichkeiten wie einem Musiker bietet, fügt sich mit den live unter der Kamera animierten Bildern der gefeierten Animationsfilmkünstlerin Michaela Müller sowie eigens angefertigten Miniaturanimationen des bildenden Künstlers Raoul Doré zu einem immersiven Bilderreigen. Dazu improvisieren Gitarristen-Legende Fred Frith, der am 16. November auch im Kultfilm «Step Across the Border» zu sehen ist, Multiinstrumentalist Domi Chansorn, der mit Sophie Hunger tourte und am Jazzfestival Montreux auftrat, und der kanadische Elektro-Dance-DJ Tom Kuo (taskone). Ein einzigartiges Live-Kino-Erlebnis, zu dem auch getanzt werden darf!
Spätsommer auf einer Alp im Unterengadin: Uorsin, seine Eltern und die Familie seiner Freundin Seraina kehren ins Tal zurück. Doch beim Alpabzug ereignet sich ein Unglück – der Alpkäse geht verloren, was Uorsins Familie schwer trifft. Nun können sie die Schulden beim Dorfkrämer Armon nicht begleichen. Was niemand ahnt: Armon hat die meisten Käselaibe aus dem Bach gefischt und verkauft sie heimlich. Sein Sohn Roman muss ihm versprechen, darüber zu schweigen. Als Gegenleistung verspricht ihm Armon etwas «Grosses». Roman, der auf Uorsin eifersüchtig ist, verlangt dessen Zicklein. Für Uorsin bricht eine Welt zusammen, denn Zila bedeutet ihm alles. Die abenteuerliche Geschichte des «Schellen-Ursli» von Selina Chönz und Alois Carigiet begeistert seit Generationen Kinder und Erwachsene. Vor zehn Jahren brachte der Schweizer Oscar-Preisträger Xavier Koller das beliebte Kinderbuch auf die Leinwand. Seine gelungene Filmadaption gehört mit rund 460’000 Besucher:innen zu den grössten Schweizer Kinoerfolgen.
Die Mitgliedschaft für die Zauberlaterne kann an der Kinokasse gelöst werden. Ausführliche Informationen finden Sie unter www.lanterne-magique.org/de/clubs/st-gallen/.
2014 eroberte die Terrormiliz des IS weite Teile des Nordirak und massakrierte die Bevölkerung. Zehntausende Jesid:innen fielen diesem Genozid zum Opfer. Während die Terroristen Männer und ältere Menschen sofort ermordeten, verkauften oder verlosten sie die jungen Frauen als Sexsklavinnen an ihre Anhänger. Aus vielen dieser Zwangsverbindungen wurden Kinder geboren: die «Bastarde des IS», wie sie die jesidische Gemeinschaft inoffiziell nennt. Nachdem der IS besiegt und die versklavten Frauen befreit worden waren, wurden sie von ihren Gemeinschaften gezwungen, ihre Kinder im Stich zu lassen – Mütter und Kinder wurden erneut Opfer patriarchaler Gewalt. In dieser eindrücklichen Dokumentation bricht eine dieser Mütter das Schweigen und schildert ihren Leidensweg … Anja Jeitner schreibt im Filmbulletin: «‹Hawar, nos enfants bannis› erzählt die Geschichte dieser Kinder, die es offiziell nicht gibt, auf bestürzend direkte und gleichzeitig eindrücklich liebevolle Weise. Zusammen mit dem kurdischen Regisseur Mohammad Shaikhow hat die Nahost-Journalistin Pascale Bourgaux mit Ana eine äusserst mutige Protagonistin gefunden und in den acht Jahren Dreharbeiten ausserordentliches Durchhaltevermögen bewiesen, um den jesidischen Frauen eine Stimme zu verleihen und das kollektive Schweigen endlich zu brechen.»
Brasilien, 1977. Marcelo, ein Akademiker Mitte vierzig, ist auf der Flucht und trifft während der Karnevalswoche in der pulsierenden Hafenstadt Recife ein, um seinen kleinen Sohn wiederzusehen. Dank eines solidarischen Netzwerks findet er Unterschlupf im Untergrund. Doch schnell wird ihm klar, dass Recife alles andere als ein sicherer Ort ist. Er fühlt sich verfolgt und erhält schon bald Morddrohungen … Mit Liebe zum Detail, eigenwilligen Charakteren und feinsinnigem Humor zeichnet Kleber Mendonça Filho ein in nostalgisch leuchtenden Farben stilisiertes Stimmungsbild der letzten Jahre des Militärregimes und entwickelt daraus einen phänomenalen Politthriller. Superstar Wagner Moura, bekannt aus der Serie «Narcos», brilliert in der Rolle des geheimnisvollen Marcelo, für die er in Cannes mit dem Preis für den besten Darsteller ausgezeichnet wurde, während Kleber Mendonça Filho den Preis für die beste Regie entgegennahm. Rüdiger Suchsland, Artechock, ist begeistert: «Mendonça lässt uns an einer spannungsgeladenen, karnevalesken Entladung teilhaben, in der der Todestrieb am Ende von der Lebenslust besiegt wird, das Weinen vom Lachen und der Hass von der Liebe.» Und Dobrila Kontić schreibt auf Kino-Zeit: «Eine von Samba-Rhythmen, illustren Nebenfiguren und originellen Einfällen getragene Erzählung über die beängstigende und unbändige Seite eines Landes im Chaos.»
Zürich, 1956. Die Werbetexterin und dreifache Mutter Emmi Creola-Maag ist für die Promotion einer Speiseölfirma zuständig. Bei ihrem Chef, einem alten Patriarchen, beklagt sie sich einmal: «Andere dürfen ganze Konzepte schreiben, ich aber immer nur Inserate.» Von seiner Antwort, «Du musst dir halt vielleicht auch mal eine Krawatte umbinden», lässt sie sich nicht entmutigen, sondern überrascht ihn mit einem Konzept, das ihn nach anfänglichen Vorbehalten überzeugt: Eine fiktive Werbefigur soll dabei helfen, nicht nur Speisefette besser zu vermarkten, sondern diese auch mit «gelingleichten», neuartigen Rezepten begleiten. Der Name der Figur: Betty Bossi. Die Schweizerinnen sind begeistert, doch der Erfolg hat seine Tücken. Er ruft die Missgunst der Kollegen hervor und verdoppelt die Arbeitslast der liebevollen Mutter und Ehefrau. Angelehnt an das Leben der realen Emmi Creola-Maag (1912–2006) taucht «Hallo Betty» mit exquisiten Dekors in die 1950er-Jahre ein. Mit einer grossartigen Sarah Spale in der Hauptrolle vermittelt Pierre Monnards Film eindrücklich und oft auch humorvoll, welche Widerstände eine Frau überwinden und welche Kompromisse sie eingehen musste, wenn sie sich in einer männerdominierten Welt nicht mit einer untergeordneten Stellung begnügen, sondern ihr eigenes Ding machen wollte. Damals wie heute nicht ganz einfach.
«Step Across the Border» begleitet den britischen Multiinstrumentalisten Fred Frith von 1987 bis 1990 zu verschiedenen Stationen rund um die Welt. Dabei vermischen sich Konzertmitschnitte, Proben und Interviews mit Kamerafahrten durch New York und Tokio zu einer mitreissenden Klang- und Bildcollage. Improvisierte Musik trifft auf Direct Cinema – zwei künstlerische Formen, die sich dem unmittelbaren Augenblick verschreiben. Die Filmemacher reagieren mit «Zelluloid-Improvisationen» auf die Musik von Fred Frith und seinen Weggefährt:innen. Musik und Bild bleiben dabei eigenständige Medien mit überraschenden Verbindungen, die mal absurd, mal komisch und manchmal einfach nur schön sind – ein lustvolles Ausprobieren und Entdecken. «Step Across the Border» ist «ein meisterhafter Diskurs über den Geist des Musik- und des Filme-Machens, von den Cahiers du Cinema unter die einhundert besten Filme aller Zeiten gewählt» (DOK.fest München). Der inspirierende Dokumentarfilm traf einen Nerv, weil er alles enthielt, wonach Kinomacher:innen wie Besucher:innen mit offenen Augen und Ohren für neue Ausdrucksformen in Kunst und Musik suchten. Freiheit, Kreativität und Lebensfreude sind die Botschaft des Films, die bis heute ungebrochen aktuell ist. Wir freuen uns deshalb sehr, dass Fred Frith anlässlich unseres Jubiläumfests bei uns zu Gast ist.
Unter der Hypnose eines Psychiaters in Kairo kehrt der Polizist Fisher nach Europa zurück, um eine Mordserie an jungen Lotterielosverkäuferinnen aufzuklären. Dabei bedient er sich der Methode seines dubiosen Mentors Osborne und versucht sich mit dem Täter zu identifizieren. So gerät der Fahnder selbst in den Sog des Mörders und weiss bald nicht mehr, was Wahn und Wirklichkeit ist. Lars von Triers zweiter Langfilm ist ein düsterer, surrealistischer Thriller und eine traumhaft unheimliche Reise in ein verfallendes, grösstenteils unter Wasser stehendes Europa. So einfalls- und anspielungsreich das Drehbuch, so überwältigend die visuelle Gestaltung mit einer durchgehend gelblich-braunen Farbgebung. Von Trier verstand diesen Auftakt zu seiner Europa-Trilogie als Verneigung vor Andrei Tarkowski und vor dem deutschen Expressionismus. Wir wagen zu behaupten, dass der Film nichts von seiner bedrohlichen Atmosphäre eingebüsst hat und die obskuren Figuren und irrwitzigen Dialoge noch genauso fesseln wie vor vierzig Jahren. Sätze, die uns immer blieben, wie: «Imagine fucking an old Volkswagen in the middle of Europe.» Oder: «Harry came to Halberstadt and stayed with Kim die halbe Nacht.»
Zu einer Zeit, als die Götter noch in Tiergestalt auf der Erde weilten, wird der junge Krieger Ashitaka von einem wildgewordenen Eber verletzt. Das von einem rachsüchtigen Dämon besessene Tier kann getötet werden, doch Ashitakas Wunde ist unheilbar und wird zu seinem Tod führen. Dieser will das Unabänderliche nicht hinnehmen und bricht auf, um den Gott des Waldes zu finden, von dem er sich Heilung erhofft. Doch der uralte, göttliche Wald ist in Gefahr. Eboshi, die Herrscherin über Eisenstadt, will ihn roden lassen, um das Gebiet für ihre Zwecke zu nutzen. Diesem Vorhaben stellen sich die wütenden Tiere entgegen, an deren Seite die geheimnisvolle Wolfstochter San alias Prinzessin Mononoke kämpft. Der Konflikt ist unvermeidbar … «Princess Mononoke» von Hayao Miyazaki ist ein Meilenstein des Animationsfilms und behandelt Themen wie Naturzerstörung, menschlichen Fortschritt, Spiritualität und den Kampf zwischen Mensch und Umwelt. Das fünfte Werk des Ghibli-Studios machte Miyazaki erstmals einem grösseren Publikum in Europa bekannt. Auch im Kinok schlug «Princess Mononoke» ein wie eine Bombe: Alle wollten ihn sehen. Obwohl die Kurator:innen der Programmschiene «Apollo» regelmässig herausragende Animes zeigten, erhielt das japanische Animationsfilmschaffen erst mit diesem berauschenden Werk die Aufmerksamkeit, die ihm gebührte.
Es beginnt mit einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Alice und ihrem Sohn Etienne. Der Zehnjährige weigert sich mit allen Kräften, in ein Tram einzusteigen; erst seine Schwester, die 17-jährige Lila, kann ihn zum Einlenken bewegen. Der Grund für das seltsame Verhalten des Buben: Eine Verhandlung vor dem Familiengericht um das Sorgerecht steht an. Und Etienne will seinen Vater, von dem sich Alice schon vor Jahren getrennt hat, unter gar keinen Umständen wiedersehen … Der Erstling des belgischen Regie- und Drehbuchduos Charlotte Devillers und Arnaud Dufeys, ein exemplarisch anmutender Sorgerechtsstreit um zwei Kinder, der immer quälendere Dimensionen annimmt, war eine der Entdeckungen der diesjährigen Berlinale. Die aus Filmen der Dardenne-Brüder bekannte Schauspielerin Myriem Akheddiou als Mutter ist schlicht grandios. Die Spannung, unter der sie während der Gerichtsverhandlung steht, und ihr Leid werden geradezu körperlich greifbar. Das Kammerspiel von existenzieller Intensität legt nach und nach die Geschichte der Familie offen; jedes Wort sitzt, jede Geste spricht für sich. Allan Hunter schreibt auf Screen Daily: «Das fesselnde Debüt fängt die Spannungen einer lebensverändernden Gerichtsverhandlung hervorragend ein. Fokussiert, dicht geschrieben und grossartig gespielt, ist es so nervenaufreibend wie ein hochklassiger Thriller.»
Hollywoodstar Jay Kelly steckt in einer Lebenskrise. Sein Job erfüllt ihn nicht mehr, die Beziehung zu seinen Töchtern ist zerrüttet. Als auch noch sein alter Freund und Mentor stirbt, der ihm einst zum Durchbruch verhalf, lässt er alles stehen und liegen. Mit seinem Manager Ron und seiner gesamten Entourage macht er sich auf den Weg in die Toskana, wo ihm ein Preis für sein Lebenswerk verliehen werden soll. Doch aus dem Ausflug wird schnell ein turbulenter Roadtrip quer durch Europa, bei dem ihn die Geister der Vergangenheit einholen und er sich mit alten Entscheidungen und seinem eigenen Vermächtnis auseinandersetzen muss. Mit einem starbesetzten Ensemble rund um George Clooney und Adam Sandler gelingt Noah Baumbach eine höchst amüsante Hollywood-Nabelschau. Thomas Schultze schwärmt in Blickpunkt:Film: «Eine kluge, hintergründige Darstellung Clooneys ist der Anker dieses Films, (…) ein mutiger Auftritt, weil die Selbstverliebtheit und Lebensleere seiner Figur nicht ironisch abgefedert wird – Clooney zieht hier blank. (…) ‹Jay Kelly› ist ein Confessional, eine Lebensbeichte, ein wehmütiger Blick auf die Dinge, die man erreicht hat, die man in den Sand gesetzt hat, auf den Preis, den man für die Ambition zahlen musste, ein Star zu werden; aber auch eine Komödie mit geschliffenen Dialogen und bitterbösen Aperçus über die Filmindustrie.»
Die Kleine Laterne ist ein Projekt des Dachvereins Zauberlaterne, das Kinder ab vier Jahren behutsam an das Medium Film heranführt, sie auf den Kinosaal vorbereitet und ihnen eine erste Filmbildung vermittelt. Den Eltern gibt sie wertvolle Hinweise zum Umgang mit audiovisuellen Medien. In der Wintersaison 2025/26 werden drei Vorführungen für unsere jüngsten Besucher:innen angeboten, die von ihren Eltern, Grosseltern oder älteren Geschwistern begleitet werden. Jede Vorführung ist in zwei Phasen gegliedert: Zuerst werden die Kinder mit einer pädagogischen Begleitung durch ein etwa halbstündiges Spiel mit Filmausschnitten geführt. Danach schauen sie sich ein knapp dreissigminütiges Programm mit Kurzfilmen an, das speziell für sie zusammengestellt wurde. Zudem haben sie die Möglichkeit, die Filmentdeckungen zu Hause über die Webseite der Kleinen Laterne zu vertiefen. In der ersten Veranstaltung erfahren die Kinder, was gute Zuschauer:innen ausmacht, an welche Regeln sie sich halten müssen und dass es etwas Unvergleichliches ist, einen Film gemeinsam im Kinosaal statt alleine zu Hause zu schauen.
Bis 24 Stunden vor Vorstellungsbeginn können Plätze auf der Webseite der Kleinen Laterne reserviert werden: www.kleinelaterne.org.
Ulrike Ottinger beschäftigt sich in ihrem viereinhalbstündigen Dokumentarfilm mit dem Schicksal jüdischer Emigrant:innen, die vor dem nationalsozialistischen Terror nach Shanghai flohen. Die Stadt galt als das «Exil der kleinen Leute», die über keine finanziellen Mittel oder Auslandkontakte verfügten, und war einer der letzten Zufluchtsorte, die man ohne Visum erreichen konnte. Sechs Zeitzeug:innen deutscher, österreichischer und russischer Herkunft lassen das pulsierende Leben des damaligen Shanghai wiederauferstehen. Sie erzählen von Ghettoisierung, Kämpfen um Arbeit und das tägliche Überleben, aber auch von Wiener Bäckereien und Berliner Wurstküchen sowie dem Luxus der mondänen Oberschicht. Die Regisseurin montiert die Erinnerungen der Interviewten mit Archivmaterial und Bildern aus dem Shanghai der 1990er-Jahre, das sie mit der Kamera erkundet. Der Film beschwört Impressionen des «jüdischen Shanghai» herauf und entfaltet einen faszinierenden Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Frauen hinter der Kamera war dem barocken Werk der Konstanzer Regisseurin immer verbunden. «Exil Shanghai» wurde im Oktober 1998 in einer denkwürdigen Vorführung gezeigt. Der Pionierfilm erzählt ein besonderes Kapitel der Exilgeschichte, das Ottinger als eine der Ersten aufgearbeitet hat, und erlaubt dem Publikum, für einige Stunden durch eine faszinierende Metropole zu flanieren.
Der Student Mark wird verdächtigt, bei Studentenprotesten in Los Angeles einen Polizisten getötet zu haben, und flieht in einem gestohlenen Kleinflugzeug. Seine Flucht führt ihn durch den Südwesten der USA. In der bizarren Wüstenlandschaft des Death Valley trifft er auf Daria. Die beiden irren durch die Einöde, rauchen einen Joint, philosophieren und lieben sich. Michelangelo Antonionis einziger in den USA realisierter Film ist ein psychedelischer Trip, der bei seinem Erscheinen weder von der Kritik noch vom Publikum goutiert und für die Produktionsfirma MGM zum Desaster wurde. Heute geniesst Antonionis Hommage an die amerikanische Studentenbewegung nicht nur wegen der Orgie im Death Valley und des spektakulären Endes Kultstatus. «‹Zabriskie Point› hat nichts von seiner schrecklichen, destruktiven Schönheit oder ungestümen Erotik eingebüsst. Antonionis apokalyptische Vision sagt genauso viel über die heutige Wut und Angst aus wie über Amerikas Generation von radikalen Studenten und Aussteigern zur Zeit des Vietnamkriegs», schrieb das MoMA 2017. Als die Galerie Hauser & Wirth noch in der Lokremise beheimatet war, haben wir Antonionis Film in einer Open-Air-Vorstellung gezeigt und wurden zu unserer Überraschung von 250 Zuschauer:innen überrannt. Im prallvollen Rondell entfaltete der Film seine ganze explosive Wucht.
Eva ist gerade in New York gelandet und soll bei ihrem Cousin Willie unterkommen, bevor sie zu ihrer Tante nach Cleveland weiterreist. Willie heisst eigentlich Béla und ist nicht begeistert, seine ungarische Cousine zu beherbergen. Er fühlt sich als Amerikaner und will nicht an seine Wurzeln erinnert werden. Sie stört seinen Alltag, den er und sein Kumpel Eddie mit Rumhängen, Pokerspiel und Pferdewetten bestreiten. Zudem nervt sie ihn mit Screamin’ Jay Hawkins’ Song I Put a Spell on You, den sie pausenlos auf ihrem Kassettenrekorder spielt. Doch als sie nach zehn Tagen abreist, müssen Willie und Eddie feststellen, dass sie Eva vermissen. Als sie sie im winterlichen Cleveland besuchen, ist es dort genauso trist wie in New York. Also brechen die drei nach Florida auf, ins vermeintliche Paradies … Jim Jarmuschs zweiter Spielfilm, eine hintersinnige Mischung aus Poesie, Melancholie und Komik, hat Kritik und Publikum gleichermassen begeistert. Auch die Kinok-Betreiber:innen waren hingerissen. Keinem anderen Regisseur gelang es, das Lebensgefühl der 1980er-Jahre mit einer so aufregenden und gleichzeitig nonchalanten Handschrift einzufangen. Der Film gilt als Meilenstein des US-Independent-Films und als eines der einflussreichsten Werke der 1980er-Jahre, und ist «mit keinem anderen Film vergleichbar» (Roger Ebert). Kurz: der Kultfilm unter den Kultfilmen.
Die Juristin Orsolya arbeitet als Gerichtsvollzieherin in Cluj, der zweitgrössten Stadt Rumäniens. Eines Tages muss sie ein Gebäude zwangsräumen, in dessen Keller ein Obdachloser haust. Orsolya gibt dem Mann eine kurze Frist, um seine Habseligkeiten zu packen. Als sie zurückkehrt, hat er sich erhängt. Für Orsolya, die sich direkt für den Tod des Obdachlosen verantwortlich fühlt, ist dies ein immenser Schock. Von Schuldgefühlen geplagt, nimmt sie sich eine Auszeit von ihrer Arbeit und sagt eine geplante Ferienreise mit ihrer Familie ab. In intensiven Gesprächen mit ihrer Mutter, einer Freundin, einem orthodoxen Priester und einem jungen Mann, den sie früher an der Universität unterrichtet hat, versucht sie, ihr Gewissen zu beruhigen. Nach der wilden Collage «Don’t Expect Too Much of the End of the World» hat Radu Jude in seinem neuen Film, einer Mischung aus Drama und Komödie, eine – vergleichsweise konventionelle – Hommage an Roberto Rossellinis «Europa ’51» geschaffen. Mit grimmigem Humor, Fabulierlust und Wut attackiert Jude einen entfesselten Kapitalismus, der sich hier noch brutaler manifestiert als in seinem Vorgängerfilm. Mit dem iPhone gedreht, thematisiert «Kontinental ’25» die Widersprüche und Heucheleien Europas und wurde auf der Berlinale mit dem Silbernen Bären für das beste Drehbuch ausgezeichnet.
Als Esther Perez im Paris der 1960er-Jahre ihr sechstes Kind zur Welt bringt, hat es zu ihrem grossen Entsetzen eine Fehlbildung am Fuss. Die Ärzte sind sich sicher, dass der kleine Roland niemals wird richtig laufen können. Doch Esther ist eine starke und sture Frau, die ihrem eigenen Kopf und vor allem ihrem Herzen folgt. Allen Ratschlägen zum Trotz verspricht sie Roland, dass er an seinem ersten Schultag auf eigenen Beinen zur Schule gehen wird. Er wird ein fabelhaftes Leben führen. Basta! Mit unerschütterlichem Optimismus setzt Esther alles daran, ihr Versprechen zu halten – selbst wenn der liebe Gott und die heilsamen Klänge französischer Chansons dabei helfen müssen … «Ma mère, Dieu et Sylvie Vartan» ist die Verfilmung der gleichnamigen Autobiografie des in Frankreich bekannten Radiomoderators und erfolgreichen Medienanwalts Roland Perez. Nach dem Tod seiner Mutter erzählte er darin erstmals von seinem Aufwachsen mit einem Klumpfuss und dem aufopferungsvollen Kampf seiner Mutter gegen die Stigmatisierung seiner Behinderung. Mit viel Humor und der umwerfenden Leïla Bekhti in der Hauptrolle gelingt dem frankokanadischen Regisseur Ken Scott ein ergreifendes Hohelied auf die Kraft der Mutterliebe, das mit zärtlichem Augenzwinkern auch die Schattenseiten einer lebenslangen Mutter-Sohn-Beziehung nicht ausklammert.
Redakteur Schneider heiratete seine Frau aus Zeitmangel erst fünf Jahre nach der Geburt von Tochter Jesta. Nun hat der reiche Onkel Peter Jesta als seine Alleinerbin auserkoren. Als er aus Amerika anreist, wird die 17-Jährige in aller Eile um fünf Jahre verjüngt, damit Onkel Peter nicht merkt, dass Jesta unehelich geboren ist, und sein Testament ändert. Der zappelige Backfisch, der Schrecken ihres Pensionats, wird in ein Hängekleidchen gesteckt und mit einer Haarmasche ausstaffiert. Alles geht gut, bis sich Jesta Hals über Kopf in ihren Onkel verliebt … Stummfilmstar Asta Nielsen hat bürgerliche Moralvorstellungen wiederholt gesprengt, doch nie so vergnüglich wie in dieser Komödie. Die 33-Jährige spielt eine 17-Jährige, die eine 12-Jährige spielen muss – was für ein Unterfangen! Die doppelte Übersetzung bringt die Ausdruckskraft und komödiantischen Fähigkeiten der Schauspielerin auf das Schönste zur Geltung. Im April 2009 haben wir im Provisorium der Lokremise ein Asta-Nielsen-Festival veranstaltet, das die Bandbreite der Mimin sichtbar machte. Das freche «Engelein» war der absolute Favorit, alle waren hingerissen. Der Film gilt als Prototyp der Screwball Comedy, «in der innovatorischen Kraft und Perfektion seiner Inszenierung und Darstellung unerreicht bis zu den frühen Meisterwerken von Lubitsch und Lang» (Ilona Brennicke, Joe Hembus).
Unter der Führung des Stalkers begeben sich ein Wissenschaftler und ein Schriftsteller in eine mysteriöse Zone, in der vor zwanzig Jahren ein Meteorit niederging. Die Zone ist eine trostlose, gefährliche Landschaft, in der es einen Ort geben soll, an dem die geheimsten Wünsche in Erfüllung gehen. Die Expedition wird zur Reise in die Innenwelt der Protagonisten und zum Panorama einer gottverlassenen europäischen Zivilisation. Ähnlich wie in «Solaris» nutzt Tarkowski eine Science-Fiction-Vorlage als Hintergrund für mystisch-philosophische Reflexionen und überwältigende Bildvisionen, mit denen er die Grenzen des herkömmlichen Erzählkinos poetisch überschreitet. «Stalker» ist eine Reise ins Imaginäre, in eine «Zone» des Schweigens und der Unsicherheiten. Die eigenwillige Ästhetik seiner Filmsprache, die sich jedem oberflächlichen Realismus verweigert, nötigte Tarkowski 1982 zur Emigration aus der Sowjetunion. Wir zeigen seinen bahnbrechenden Film in Erinnerung an die legendäre Vorführung der Kinok-Begründer bei der Kehrichtverbrennungsanlage. Das Kino der Sowjetunion war den Kinok-Betreiber:innen immer wichtig; Tarkowskis Werk wurde in zwei Retrospektiven gewürdigt. Bei der ersten Werkschau im Oktober 1986 war der Kinosaal an der Grossackerstrasse immer brechend voll: Endlich war sein gewaltiges Werk zu sehen – eine Offenbarung.