FENSTER ZUR FILMWELT: VIELFALT, KUNST UND BEGEGNUNGEN IM KINOK.
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Normal: CHF 17.-
Mitglieder: CHF 12.-
Montagskino: CHF 12.-
Schüler:innen, Lernende, Studierende bis 26 Jahre: CHF 13.-
Kinder bis 12 Jahre: CHF 10.-
IV-Bezüger:innen: CHF 12.-
KulturLegi-Inhaber:innen: CHF 7.-
Mittwochnachmittagskino: CHF 12.- für AHV-Bezüger:innen
Freier Eintritt für Asylsuchende und vorläufig Aufgenommene (Ausweis N/F/S)

Seit Generationen ziehen die Gauchos, die argentinischen Cowboys, mit ihren Viehherden durch die weiten Landschaften Patagoniens im dünn besiedelten Süden Argentiniens. Menschen und Tiere leben derart intensiv zusammen, dass sie geradezu miteinander zu verschmelzen scheinen. Der Fotograf und Maler Michael Dweck und Kameramann Gregory Kershaw, die mit ihrem früheren Film «The Truffle Hunters» Furore machten, porträtieren in ihrem bildgewaltigen Werk eine von der Welt vergessene, verschworene Gemeinschaft, die man sofort liebgewinnt: die rebellische junge Guada, die Gaucha werden will, ein alter Cowboy mit Rauschebart, ein Schamane, zwei Jungen, die mit ihren Pferden zu verwachsen scheinen. Was für ein Film! Die Regisseure erzählen die Geschichte einer in der Tradition verwurzelten Subkultur so liebevoll und beglückend, dass man sich diesen Menschen umgehend anschliessen möchte. Die Filmemacher lassen sich viel Zeit und kreieren Bilder und Szenen von vollendeter Schönheit, die vergessen lassen, dass «Gaucho Gaucho» ein Dokumentarfilm ist. Rebecca Nicholson schreibt in The Guardian: «Das ist ein visuell und akustisch erstaunlicher Film – einer, den man sich nicht so sehr anschaut, sondern in den man vielmehr eintaucht. Er ist abstrakt, aber packend, er ist schwarz-weiss, theatralisch und filmisch. Sie werden reich belohnt werden!»

«Ich habe in meinem Leben keine grossen Fehler gemacht», sagt Nathalie gleich zu Beginn des Films. Es ist die kämpferische Ansage einer Frau, der das Leben viel abverlangt. Mit unerschöpflicher Energie und Einfallsreichtum schlägt sich die alleinerziehende Mutter zweier Kinder mit verschiedenen prekären Jobs durch. Nathalie ist eine Chrampferin. Sie will sich nicht unterkriegen lassen von einem Haufen Mahnungen und einem Berg Schulden – und sich auch nicht ihre Lebenslust nehmen lassen. Auf keinen Fall will sie von der Sozialhilfe abhängig sein. Ihr Leben gerät weiter in Schieflage, als sie von einer langjährigen Arbeitgeberin überraschend gekündigt und durch einen jüngeren Mann ersetzt wird. Dass vor allem alleinerziehende Frauen mit schlecht bezahlten Teilzeitjobs von Armut betroffen sind und es nicht viel braucht – eine Trennung, Kündigung oder Krankheit –, um in eine finanzielle Notlage zu geraten, ist bekannt. Das Verdienst der Regisseurin ist es, versteckte Armut sichtbar zu machen und ungeschönt vom beeindruckenden Überlebenswillen einer Betroffenen zu erzählen. Tamara Milošević sagt über ihr unter die Haut gehendes Porträt: «Der Film ist eine Einladung hinzuschauen – und umzudenken. Schulden sind oft das Ergebnis eines Systems, das Frauen strukturell benachteiligt. Es geht um Gerechtigkeit, um Sichtbarkeit – und darum, sich zu fragen: Was können wir ändern?»

Die brillante Juniorprofessorin Agnes unterrichtet englische Literatur an der Universität in Massachusetts, wo sie einst selbst studiert hat. Sie lebt zurückgezogen auf dem Land und tut sich schwer mit neuen Liebschaften, da sie unter den traumatischen Folgen eines Übergriffs ihres früheren akademischen Mentors leidet. Einzig von ihrer in New York lebenden, besten Freundin Lydie fühlt sie sich verstanden. In fünf Kapitel gegliedert, erzählt der Film drei Jahre aus dem Leben einer Frau, die sich trotz des furchtbaren Missbrauchs nicht unterkriegen lässt. Anlässlich seiner Weltpremiere am diesjährigen Sundance Film Festival wurde die Regisseurin, Drehbuchautorin und Hauptdarstellerin Eva Victor als neues Nachwuchstalent gefeiert. Erfrischend ehrlich und schonungslos, doch zugleich einfühlsam und leichtfüssig findet sie einen Weg, eine traumatische Geschichte ganz neu zu erzählen. Kate Erbland ist auf IndieWire über «das düster-komische und enorm zärtliche Drama» des Lobes voll: «Agnes ist etwas Schlimmes passiert. Aber das Leben geht weiter – ein grosses, wunderbares, lustiges, schreckliches, seltsames, trauriges, grossartiges Leben. Was für ein Glück, dass Eva Victor hier ist, um genau das zu dokumentieren.» Ihr ist ein tiefgründiger, bewegender und auch sehr humorvoller Film über Heilung, Freundschaft und Selbstfindung geglückt.

Als Italien im Sommer 2022 unter der Dürre leidet, scheint auch die Quelle beim Haus von Paolo Cognetti im auf 1700 Metern gelegenen Dörfchen Estoul im Aostatal zu versiegen. Dieses untrügliche Zeichen des Klimawandels veranlasst den 47-jährigen italienischen Bestsellerautor («Le otto montagne») und erfahrenen Alpinisten zu einer ausgedehnten Bergtour in sein geliebtes Monte-Rosa-Massiv. In Begleitung seines treuen Border Collies Laki folgt er den Spuren des Wassers, weit hinauf zu einsamen Bergseen, schmelzenden Gletschern und hochgelegenen Schutzhütten. In seinem Regiedebüt «Fiore mio» kehrt Cognetti in die Bergwelt seiner Kindheit zurück, die auch Schauplatz der erfolgreichen Verfilmung seines Romans war, und zeigt eine alpine Landschaft im Wandel. Der Film lädt zum Beobachten und Innehalten ein und erzählt in atemraubenden Bildern von eindrücklichen Begegnungen mit Menschen und Tieren. Paolo Mereghetti schreibt im Corriere della sera: «‹Fiore mio› ist ein Dokumentarfilm, der von den Bergen erzählt, aber auch eine Art öffentliches Tagebuch, das Ökologie, existenzielle Überlegungen und anthropologische Untersuchungen miteinander verbindet.» Das Fazit der kanadischen Forstwissenschaftlerin Suzanne Simard lautet: «Dieser Film handelt nicht davon, wie wir den Berg retten können, sondern davon, wie der Berg uns retten könnte.»

Das Mädchen Alma wächst um 1910 auf einem abgelegenen Gutshof in der Altmark auf. Als sie eine Fotografie ihrer früh verstorbenen Schwester entdeckt, ist sie überzeugt, bald dasselbe Schicksal zu erleiden. Jahrzehnte später, am Ende des Zweiten Weltkriegs, lebt die pubertierende Erika auf dem Hof und entwickelt eine erotische Faszination für ihren kriegsversehrten Onkel. In den 1980er-Jahren entdeckt Angelika, die Tochter von Erikas Schwester, ihre Sexualität und macht traumatische Erfahrungen. In der Gegenwart sind die Schwestern Nelly und Lenka mit ihren Berliner Eltern auf den mittlerweile heruntergekommenen Hof gezogen und werden von Träumen heimgesucht, die mit den anderen drei Mädchen in Verbindung stehen. Regisseurin Mascha Schilinski begeisterte mit ihrem epochalen Film beim diesjährigen Festival von Cannes. Das überwältigende Werk, eine Entdeckungsreise durch die feinsten Verzweigungen der Gefühlswelten über vier Generationen, wurde von der Kritik gefeiert und mit dem Jurypreis ausgezeichnet. Katja Nicodemus schreibt in Die Zeit: «Dieser Film ist eine Sensation. Mit seiner assoziativen Montage erzählt er nicht nur von einem Ort, sondern von einer einzigen, aus mehreren Frauen, Mädchen und Erinnerungen bestehenden Person und einer einzigen, aus mehreren Zeitlichkeiten zusammenfliessenden Gegenwart.»

Weil sie in eine kleinere Wohnung ziehen will, bringt die 80-jährige Besitzerin ein José de Ribera zugeschriebenes Gemälde, das über Jahrzehnte im Esszimmer ihrer Familie hing, in ein Madrider Auktionshaus. Es trägt den Titel «Ecce homo», ein bekanntes Motiv der bildenden Kunst, das den gefolterten Christus zwischen Pontius Pilatus und einem Soldaten zeigt. Das Gemälde wird für 1500 Euro online ausgeschrieben – worauf sich die Ereignisse überstürzen. Fachleute werden darauf aufmerksam und äussern die Vermutung, es könnte sich um ein verschollenes Werk von Caravaggio handeln – eine Sensation! Caravaggio (1571–1610) gilt als genialer Erneuerer der Malerei und ist durch sein abenteuerliches, kurzes Leben zu einer Art «Rockstar» der Kunstgeschichte geworden. Nur sechzig Gemälde sind von ihm erhalten, entsprechend hoch werden sie gehandelt. Die Entdeckung eines solchen «Sleepers» – ein Kunstwerk, dessen Bedeutung nicht erkannt wurde, – ist der Traum eines jeden Kunsthändlers. Drei Jahre lang hat Regisseur Álvaro Longoria den Madrider Kunsthändler Jorge Coll begleitet und die einzelnen Stationen aufgezeichnet: von der spektakulären Wiederentdeckung über die neuen Expertisen und die heikle Restaurierung bis zum Verkauf. Entstanden ist ein atemraubender Doku-Thriller, der Einblicke in die Komplexität und die Geheimnisse des Kunsthandels gibt.

Raynor und Moth Winn machen sich zum South West Coast Path auf, Englands berühmtem Küstenwanderweg. Das Ehepaar in den Mittfünfzigern nimmt den über tausend Kilometer langen Wanderweg in Südwestengland nicht aus Freude am Wandern in Angriff, sondern aus purer Verzweiflung – nach mehreren Schicksalsschlägen stehen sie vor dem Nichts. In einem Gerichtsprozess, der ihre gesamten Ersparnisse verschlungen hat, haben sie ihre Farm verloren, die ihre Existenzgrundlage war. Zudem wurde bei Moth eine unheilbare, degenerative Krankheit diagnostiziert. Mit Rucksack und Zelt begeben sie sich auf die anspruchsvolle Küstenwanderung von Minehead in Somerset bis nach Poole in Dorset. Die beeindruckende und kluge Verfilmung des autobiografischen Bestsellers «The Salt Path» («Der Salzpfad») von Raynor Winn durch Regisseurin Marianne Elliott lebt wie «The Unlikely Pilgrimage of Harold Fry» von einer anrührenden, tiefgründigen Geschichte, grossartigen Schauspieler:innen und atemraubenden Landschaftsaufnahmen. Courtney Howard schreibt in Variety: «Gillian Anderson und Jason Isaacs’ intime, präzise Darstellungen sind herausragend. Durch die Stimmlage oder die zärtlichen Blicke, die sie austauschen, bringen sie in ihrem zurückhaltenden, nuancierten Spiel den Kampf, die Ängste und schliesslich das Glück ihrer Figuren auf den Punkt.»

Die Uhrenmetropole Biel galt in den 1960er-Jahren als «Zukunftsstadt» der Schweiz. Aus dieser Zeit der Wachstums- und Planungseuphorie stammen zwei Bieler Wahrzeichen: das 1966 eröffnete Kongresshaus mit angrenzendem Verwaltungshochhaus und das seit 1968 bestehende autonome Jugendzentrum (AJZ) in der Kuppel des ehemaligen Gaskessels. Zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Bauwerken befinden sich die 5082 Quadratmeter Asphalte public, die der Titel des Dokumentarfilms anspricht: die «Esplanade». Es sind zwei Welten, die des Palais des Congrès und die der Coupole, die hier aufeinandertreffen. Bis vor wenigen Jahren war der Platz noch vom vielen Grün einer faszinierenden Wildnis umrandet, doch jetzt ragt eine riesige Überbauung mit gesichtslosen Wohnblöcken in den Himmel. Die Stadt habe dringend gute Steuerzahler:innen gebraucht, rechtfertigt die ehemalige Finanzdirektorin von Biel den Verkauf des einst städtischen Grundstücks an eine auswärtige Investor:innengruppe. Es ist einer von vielen erhellenden Momenten in dieser zwischen 2020 und 2024 gedrehten Langzeitstudie, in der der aus St.Gallen stammende Regisseur Jan Buchholz («Auf- und Abbruch in St.Güllen») Architektur, Stadtentwicklung, Sozialgeschichte und Musik unterschiedlichster Stilrichtungen zu einem vergnüglichen Trip in einen kaum bekannten Mikrokosmos verbindet.

Als Aagje und Toon ihren Sohn in der psychiatrischen Klinik besuchen, sind sie mit dem Unfassbaren konfrontiert. Rick sitzt am Tisch und notiert, wie er sich seine Beerdigung wünscht: Ein lichtes Fest soll es werden, die Gäste weiss gekleidet und fröhlich, weil sein Leben so dunkel war. Seit über zwanzig Jahren leidet er unter unerträglichen psychischen Qualen; er hat eine Vielzahl von Diagnosen und Therapien erhalten – ohne Erfolg. Des Kämpfens müde, hat Rick einen assistierten Selbstmord beantragt und wartet auf den Bescheid, während die Eltern damit ringen, sich für immer von ihrem Sohn verabschieden zu müssen – hin- und hergerissen zwischen der Angst vor dem Unabänderlichen und der Hoffnung auf einen Ausweg. Die niederländische Regisseurin Laura Hermanides wurde von einem realen Fall zu ihrem beeindruckenden Spielfilm inspiriert. Entstanden ist ein einfühlsamer, herzzerreissender Film, der heikle Fragen zur Sprache bringt und von grossartigen Darsteller:innen getragen wird, allen voran Renée Soutendijk als Mutter Aagje. Die an der Universität St.Gallen beheimatete Forschungsgruppe Assisted Lab schreibt: «Durch die eindringliche Darstellung von Ricks Leiden vermittelt der Film Verständnis für Sterbehilfe bei psychischen Erkrankungen, ohne dabei die moralischen Dilemmata für Ärzte und Gesellschaft ausser Acht zu lassen.»

Ein Lachen, das zu laut ist. Ein Streit, der zu spät kommt. Ein Kuss, der nichts mehr rettet. Nach vierzehn Jahren Ehe haben sich der Industrielle Richard und seine Frau Maria auseinandergelebt. Während er sich im Versuch, der schmerzlichen Leere in seiner Beziehung zu entkommen, in die Arme der jungen Prostituierten Jeannie flüchtet, sucht sie Trost in einem Nachtclub und erliegt den Verführungskünsten eines Playboys … Mit schonungsloser Ehrlichkeit nimmt John Cassavetes in seinem dreifach oscarnominierten Drama eine zerrüttete Ehe, moderne Entfremdung und den Kampf der Geschlechter buchstäblich unter die Lupe. Gedreht in grobkörnigem Schwarz-Weiss, oft mit der Handkamera und extrem nah an den Figuren, wirkt «Faces» wie direkt aus dem Leben gegriffen – roh, unmittelbar, unbequem. «Man glaubt, in die Seele der exzellenten Schauspieler schauen zu können», lobt der Filmdienst. Und Robert Lorenz schreibt im Filmkuratorium: «‹Faces› ist, ganz titelgemäss, ein Film der Gesichter – und welches Gesicht könnte für eine solche Close-up-Parade besser geeignet sein als das von Gena Rowlands, mit seiner gewaltigen Ausdrucksstärke?» In der Rolle der Jeannie begegnet sie Richard mit einer Mischung aus Lebenshunger, Verletzlichkeit und kluger Distanz und ist weit mehr als das blosse Gegenüber im nächtlichen Eskapismus eines Mannes in der Midlife-Crisis.

Peru, 1930er-Jahre: Die junge Dresdnerin Maria Reiche hat dem faschistischen Deutschland den Rücken gekehrt und lebt als Mathematiklehrerin in Lima, als ein französischer Archäologe sie bittet, ihn zu seiner Ausgrabungsstätte zu begleiten, um Notizen seines verstorbenen deutschen Freundes zu übersetzen. Paul erhofft sich von ihnen Hinweise auf ein antikes Bewässerungssystem in der Wüste von Nazca. Stattdessen stossen sie mitten in der Einöde auf eines der grössten Rätsel der Menschheitsgeschichte: gigantische, mit mathematischer Präzision in den Sand gezeichnete Linien, die Maria sofort in ihren Bann ziehen. Nahezu besessen davon, das Geheimnis der Geoglyphen zu ergründen, widmet sie sich fortan mit unerschütterlicher Beharrlichkeit der Erforschung der Nazca-Linien – auch gegen den Widerstand der Mächtigen Perus. In seinem bildgewaltigen Biopic setzt der Schweizer Regisseur Damien Dorsaz einer mutigen Frau und ihrer beeindruckenden Lebensleistung ein Denkmal. Die Archäologin Maria Reiche (1903–1998) begann in den 1940er-Jahren mit der systematischen Vermessung der Nazca-Linien und machte sie durch ihre spektakulären Luftaufnahmen weltbekannt. Bis zu ihrem Lebensende setzte sie sich unermüdlich für den Erhalt der Wüstenfiguren ein, die ohne sie heute wohl nicht mehr existieren würden.

«Die Zukunft gehört allen.» Mit diesen salbungsvollen Worten preist die brasilianische Regierung ihre Anordnung an: Alle Menschen über 75 sollen in eine abgelegene Senior:innenresidenz ziehen, um dort ihren Lebensabend zu geniessen. Die 77-jährige Tereza, die ihr ganzes Leben in einer kleinen Industriestadt verbracht hat, weigert sich, dieses aufgezwungene Schicksal zu akzeptieren. Sie möchte sich endlich ihren Traum von einer Flugreise erfüllen. Als ihr im Reisebüro, in dem sie einen Flug – egal wohin – buchen möchte, beschieden wird, dass sie vom Fliegen ausgeschlossen ist, schafft sie es mit List auf ein Boot. Gemeinsam mit einem schrulligen Bootsführer beginnt eine Reise, die an immer geheimnisvollere Orte führt. «Tereza – O último azul» war der Publikumsliebling der diesjährigen Berlinale und wurde mit dem Grossen Jurypreis und dem Preis der Ökumenischen Jury ausgezeichnet. Thomas Abeltshauser schreibt in epd Film: «Für seinen magischen Realismus findet Gabriel Mascaro eigenwillig poetische Metaphern und Bilder, (…) die zu entdecken einen grossen Teil des Vergnügens an diesem originellen, immer wieder überraschenden Film ausmacht. (…) Die Flusslandschaft des Amazonas und das faszinierende Licht fängt Kameramann Guillermo Garza in beeindruckenden Panoramen ein, auch die Nacht bringt er in seinen atmosphärisch dichten Bildern zum Flirren.»

Paolo und Lucia sind seit acht Jahren ein Paar und mit Leib und Seele Schauspieler:innen. Doch die grosse Karriere lässt auf sich warten, gute Rollen zu ergattern ist schwierig, und vielleicht zeigt auch ihre Beziehung erste Risse … In dieser Notlage überredet Lucia Paolo, an der beliebten Reality-TV-Show namens «Leichen im Keller» teilzunehmen, in der Paare vor der Kamera von den Höhen und Tiefen ihrer Liebesbeziehung erzählen. Könnte das eine Chance für einen Neuanfang sein? Die beiden ahnen nicht, worauf sie sich eingelassen haben … Mit «Indagine su una storia d’amore» hat Gianluca Maria Tavarelli eine Komödie mit bitteren Untertönen geschaffen, eine aktuelle und treffende Satire auf die Macht der in ganz Europa populären Reality-TV-Shows, in denen ein Millionenpublikum nach intimen Enthüllungen giert. Der Regisseur bezeichnet seinen Film als «Chronik einer angekündigten Katastrophe», die aufzeige, wie hoch mittlerweile die Bereitschaft sei, Intimstes öffentlich preiszugeben. Elisabetta Bartucca schreibt auf Movieplayer: «Ein Film über die Gegenwart und die Folgen des Verlangens nach Sichtbarkeit im Zeitalter der sozialen Überpräsenz. Gianluca Maria Tavarelli schenkt uns Momente von seltener Authentizität und Melancholie.»

KI durchdringt zunehmend unseren Alltag. Sechs Jahre lang, also schon lange vor dem Hype um ChatGPT, hat sich Valerio Jalongo mit diesem Thema befasst und lässt in seinem spannenden Dokumentarfilm, der wie ein Spielfilm gestaltet ist, Koryphäen aus diversen Sparten zu Wort kommen. So etwa einen Hirn- und Kreativitätsforscher, einen Media- und KI-Künstler, die Direktorin des europäischen Human Brain Project, oder Robotik-Forscher:innen, die mit dem sprechenden Roboter Ameca interagieren. Den Kontrapunkt dazu bilden Szenen der Tanzkompanie von Sasha Waltz, die mit ihren Bewegungsvariationen jene neuronalen Lernvorgänge von Körper und Gehirn vorführen, welche die KI nachvollziehen oder simulieren. Jalongos Dokumentarfilm vereint Aspekte aus Wissenschaft, Kunst und Philosophie und versucht zu verstehen, was es braucht, damit KI die Zukunft der Menschheit positiv gestalten kann. In den Worten des Regisseurs: «KI ist ein Erbe der gesamten Menschheit. Ihre Wurzeln sind zutiefst spirituell, denn ohne das über Jahrtausende gesammelte Wissen, die Schönheit und die Kunst, die Menschen hervorgebracht haben, gäbe es sie nicht. Vielleicht sollten wir statt von ‹künstlicher› besser von ‹kollektiver Intelligenz› sprechen.»

Ein Kurzfilmprogramm mit Animationsfilmen zum Schnurren gibt es diesen Monat für die kleinsten Zuschauer:innen. Die vier lustigen und poetischen Filme drehen sich um Katzen und ihre Abenteuer. Nach den preisgekrönten Vorgängerfilmen «Der Grüffelo» und «Die Schnecke und der Buckelwal», die bereits im Kinok zu sehen waren, kommt mit «Tommi Tatze, die singende Katze» eine weitere Adaption nach einem Werk des beliebten Kinderbuchduos Axel Scheffler und Julia Donaldson auf die Leinwand. Kater Tommi Tatze liebt sein Leben an der Seite des Strassenmusikers Matze. Als dieser eines Tages verschwindet, findet sich Tommi zwar schnell in seinem neuen Alltag zurecht, doch seinen alten Freund kann er nicht vergessen. Die rührende Geschichte, die in der deutschen Version von der Schauspielerin Paula Beer erzählt wird, hat zahlreiche Preise an Festivals gewonnen. Auch die zwei Kurzfilme «Erwin» von Petr Jindra und «Die Katze im Sack» von Nils Skapāns drehen sich um die Freundschaft zwischen Menschen und Stubentigern. Von Julia Ocker stammt der vielfach preisgekrönte Kurzfilm «Die Katze», in dem sich eine Katzenköchin über ein neues, leckeres Suppenrezept freut: Mäusesuppe! Doch was soll dann aus ihren kleinen Freunden werden?

Die ehrgeizige Köchin Cécile steht kurz davor, mit ihrem Lebenspartner Sofiane ein eigenes Gourmetrestaurant in Paris zu eröffnen. Als sie gerade mit Entsetzen festgestellt hat, dass sie ungewollt schwanger ist, erreicht sie auch noch die Nachricht, dass ihr Vater einen Herzinfarkt erlitten hat. Cécile sieht sich gezwungen, einige Tage in ihr Heimatdorf zurückzukehren und im Hotelrestaurant für Fernfahrer auszuhelfen, das ihre Eltern betreiben. Im Mief der Provinz, vor dem sie einst geflohen ist, hat sie nicht nur mit ihrem sturen Vater zu kämpfen, der sich selbst aus dem Krankenhaus entlassen hat und nicht daran denkt, sich zur Ruhe zu setzen. Sie trifft auch auf ihren Jugendschwarm Raphaël – und längst verdrängte Gefühle kommen wieder hoch … Mit ihrem hinreissenden Spielfilmdebüt, das dieses Jahr das Filmfestival von Cannes eröffnete, ist Amélie Bonnin ein zärtlich-melancholischer Gute-Laune-Film über die Rückkehr zu den Wurzeln gelungen. Ein Musical obendrein, denn wenn die Gefühle zu köcheln beginnen, wird Chanson-Karaoke angestimmt. «Der Clou aber sind die Songs, kurze, scheinbar spontane Gesangs- und Tanzeinlagen zu bekannten Stücken, die sich nahtlos in die Geschichte einfügen», schreibt Joachim Kurz auf Kino-Zeit. In der Hauptrolle glänzt die wunderbare Juliette Armanet, die in Frankreich ein grosser Popstar ist.

Die junge Deva lebt in prekären Verhältnissen in einem Wohnwagencamp am Stadtrand von Rom. Täglich fährt sie frühmorgens mit dem Bus in die Stadt auf der Suche nach Gelegenheitsjobs, mit denen sie sich und ihre alkoholkranke Mutter mehr schlecht als recht über Wasser hält. Eines Tages lernt sie die 60-jährige Carla kennen und findet Arbeit in ihrem Fischgeschäft. Als sie auch auf deren einjährigen Enkel aufpassen soll, ist Deva zunächst wenig begeistert. Doch der Kleine wächst ihr allmählich ans Herz und löst überraschende Veränderungen bei ihr aus. Stefano Chiantinis berührender Film, in dessen Zentrum Menschen am Rande der Gesellschaft stehen, reiht sich ein in die Tradition des italienischen Neorealismus und erinnert an die Werke von Ken Loach. «Una madre» erzählt dabei von der wohl fragilsten Situation weiblicher Armut, der Mutterschaft, und dies in allen Varianten, auch jener ohne biologische Verwandtschaft. Anna Culotta schreibt auf NonSoloCinema: «Die Regie ist nüchtern, aber einfühlsam, die Kamera zeigt Devas’ Entwicklung, von der anfänglichen Härte und scheinbaren Distanziertheit bis zum allmählichen Zusammenbruch der Abwehrmechanismen, die sie daran hinderten, ihren Emotionen Ausdruck zu verleihen und ihr Trauma zu überwinden. Dabei verleiht Aurora Giovinazzo ihrer Figur und dem gesamten Film eine bemerkenswerte Intensität.»

Der Peruaner Andrés Roca Rey ist der berühmteste Torero Spaniens. Mehr als drei Jahre lang hat der katalanische Regisseur Albert Serra – bekannt für so erratische Spielfilme wie «Pacifiction» oder «Història de la meva mort» – den Matador bei seinem blutigen, lebensgefährlichen Handwerk begleitet. Herausgekommen ist ein verstörendes Werk, das das brutale Ritual so zeigt, wie man es noch nie gesehen hat: Die Kamera rückt nah an den prachtvoll eingekleideten Torero heran, der in einer einstudierten Choreografie die mehr oder weniger kampfwilligen Stiere umkreist; das Publikum bleibt ausgeblendet. Das befremdliche Spektakel, das dem Stierkämpfer höchste Konzentration abverlangt, und das Sterben der Tiere hält der Regisseur in unkommentierten Bildern fest – als «Nachmittage der Einsamkeit», so der Filmtitel. Vor seiner Weltpremiere beim Filmfestival San Sebastián 2024 löste der Film wütende Reaktionen und Boykottaufrufe aus, ohne dass ihn jemand gesehen hatte. Umso grösser war die Überraschung, als er den Hauptpreis, die Concha de Oro, gewann. Die Jury begründete dies so: «Die künstlerische Kraft und überwältigende Bildsprache dieses Werkes lassen dem Publikum Raum zum Urteilen. Wir glauben an die Macht der Kunst, etwas zu bewegen. Dieses Werk ermöglicht uns über Grenzen künstlerischen Ausdrucks nachzudenken, über Angst, Brutalität oder Maskulinität.»

Pietro Vella unterrichtet Literatur an einem Römer Gymnasium. Zwischen ihm und seiner brillanten Schülerin Teresa funkt es gewaltig. Nach Teresas Schulabschluss beginnen die beiden eine stürmische Affäre, in der auch häufig die Fetzen fliegen. Als sie sich nach einem Streit versöhnen, schlägt Teresa vor, sich gegenseitig ein Geheimnis anzuvertrauen, welches das Potenzial hätte, den anderen zu zerstören, falls es öffentlich würde. Die Zeit vergeht, Pietro macht sich einen Namen als Fachautor und lebt mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter ein komfortables, bürgerliches Leben. Doch die Sorge, dass Teresa eines Tages zurückkehren und sein Geheimnis verraten könnte, lässt ihn nicht los … Mit einem brillanten Elio Germano («Berlinguer») als Pietro lässt sich Daniele Luchetti («Lacci») in «Confidenza» erneut von einem Roman von Domenico Starnone inspirieren. Vanja Kaludjercic schreibt für das International Film Festival Rotterdam: «Luchetti analysiert nicht nur das Katz-und-Maus-Spiel von Pietro und Teresa, er zeigt auch mit dem Finger auf das Kleinbürgertum, dessen eigennützige Interessen und Heucheleien nach und nach das gegenseitige Vertrauen untergraben. Rätselhaft, klaustrophobisch, intensiv und von Thom Yorkes Filmmusik untermalt, ist ‹Confidenza› ein exquisiter Thriller und eine tiefgründige Analyse menschlichen Verhaltens.»

Paul ist ganz aufgeregt, als seine Grossmutter ihn und seine Schwester zum ersten Mal ins Kino mitnimmt. Er ist fasziniert vom Lichtstrahl, der aus der Projektionskabine leuchtet, und vom Film «Fantômas» auf der Leinwand. Weil seine Schwester Angst bekommt, müssen sie zum Unmut von Paul die Vorführung vorzeitig verlassen. Doch seine Liebe zum Kino ist entfacht und wird sein weiteres Leben bestimmen. Paul Dédalus ist das Alter Ego von Regisseur Arnaud Desplechin, der sich in «Spectateurs!» in warmherzigen Episoden an seine Jugend erinnert. Die lyrische, von zahlreichen Glanzlichtern der Filmgeschichte unterlegte Liebeserklärung an das Kino weitet sich von autobiografischen zu historischen, philosophischen und politischen Reflexionen. Isaac Feldberg schreibt auf RogerEbert.com: «Desplechins romanhafte Doku-Fiktion ist emotional überwältigend in ihrer Umarmung des Publikums, der Gemeinschaft, die sich in einem Kino bildet, sobald die Lichter ausgehen, und der projizierten Bilder, die uns an einen anderen Ort entführen. Der Film ist voller filmischer und literarischer Anspielungen, die mit ausserordentlich leichter Hand präsentiert werden. Hier sind die Betrachter der Bilder wichtiger als ihre Schöpfer.»

Wie durch ein Wunder überlebt die Klavierstudentin Laura einen schweren Autounfall. Körperlich unversehrt, aber innerlich aus der Bahn geworfen, kommt sie bei Betty unter, die das Unglück beobachtet hat. Vom ersten Moment an verbindet die beiden eine tiefe Zuneigung. Laura geniesst Bettys mütterliche Fürsorge, die Besuche in der Werkstatt von Bettys Ehemann und Sohn, die Arbeit im Garten. Es ist eine unbeschwerte, glückliche Zeit des Zusammenseins, ein Spätsommertraum, dem sich Laura und die Familie nur zu gerne überlassen. Doch da schwelt ein dunkler Schmerz, der sie alle verbindet und doch unausgesprochen bleibt … Im neuen Film von Ausnahmeregisseur Christian Petzold erkennt man nicht nur Schauspieler:innen, sondern auch Motive seiner früheren Werke wieder. Benannt nach einem Klavierstück von Maurice Ravel, ist «Miroirs No. 3» nach «Undine» und «Roter Himmel» der Abschluss seiner Trilogie über die Elemente. Nach Wasser und Feuer ist es hier die Luft, in der die zwei Frauen nach ihren Verlusterfahrungen zu schweben scheinen – in einem atmosphärisch leichten Sommerfilm, in dem sich vier Menschen behutsam einander annähern. Getragen vom sensiblen Spiel seiner fantastischen Darsteller:innen, erzählt Petzold berührend und zärtlich von der Fragilität des Lebens, der Überwindung der Verzweiflung, von Verlust, Schmerz und Liebe.

Zürich, 1948: Der amerikanische Abenteurer und Höhlenforscher James Larkin White sitzt im Polizeigefängnis in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen, seinen Pass gefälscht zu haben und in Wirklichkeit Anatol Stiller zu sein, ein seit sieben Jahren verschwundener Zürcher Bildhauer, der an der Ermordung eines russischen Dissidenten beteiligt gewesen sein soll. Da White auf seiner Identität beharrt und die Vorwürfe vehement zurückweist, veranlasst der Staatsanwalt eine Gegenüberstellung mit Stillers Ehefrau Julika. Doch auch sie, eine ehemalige Balletttänzerin, die wegen einer Tuberkuloseerkrankung ihre Karriere aufgeben musste, kann den Mann nach so vielen Jahren nicht zweifelsfrei identifizieren. Ein Verwirrspiel um Identität, Männerbilder und Wahrheitsfindung nimmt seinen Lauf, in das noch mehrere weitere Figuren hineingezogen werden, wie etwa die Gattin des Staatsanwalts oder Whites Verteidiger. Der Zürcher Regisseur Stefan Haupt («Zwingli») hat sich mit seiner mit Spannung erwarteten Verfilmung an eines der wichtigsten Werke Max Frischs gewagt, mit dem dem Autor 1954 der literarische Durchbruch gelang. Für sein elegant erzähltes, liebevoll ausgestattetes und virtuos die Zeitebenen wechselndes Vexierspiel hat Haupt ein schweizerisch-deutsches Starensemble aufgeboten, das seinesgleichen sucht und zu Höchstform aufläuft.

Anna betreibt einen kleinen Bauernhof mit Ziegen und Käseproduktion in einer unberührten Gegend Sardiniens nahe der Küste. Nach einer gescheiterten Ehe ist sie von Mailand in ihre alte Heimat zurückgekehrt, der sie sich immer verbunden fühlte, und lebt ein unabhängiges Leben im Einklang mit der Natur und ihren Tieren. Land und Bauernhof hat sie von ihrem Vater geerbt, der das Grundstück vor vielen Jahren nach alter sardischer Tradition per Handschlag gekauft hat. So fällt Anna aus allen Wolken, als eines Tages vor ihrer Haustüre Bagger vorfahren, um auf ihrem Grundstück ein Ferienresort zu errichten. Wild entschlossen zieht sie gegen die Immobilienhaie in einen aussichtslos scheinenden Kampf, einzig unterstützt von Anwalt Ruggero … Inspiriert von wahren Begebenheiten erzählt Marco Amenta die Geschichte einer mutigen Frau, die ihre Rechte einfordert, verkörpert von der Sardin Rose Aste, die diese starke und gleichzeitig verletzliche Frau mit unglaublicher Intensität spielt. Fabio Ferzetti schreibt in L’Espresso: «‹Anna› ist einer der bewegendsten Filme der Saison – diese attraktive, hartnäckig unbeugsame und unabhängige Frau ist eine bemerkenswerte Figur und eine glaubwürdige Vertreterin aller Vergessenen dieser Welt im Kampf gegen die Übermacht der Wirtschaft und ihre heimtückischste Verbündete: die kollektive Gleichgültigkeit.»

Agathe arbeitet in der legendären Pariser Buchhandlung Shakespeare and Company, träumt von der Liebe und schreibt heimlich an ihrem ersten Roman. Als leidenschaftliche Jane-Austen-Verehrerin hat sie für alle Lebenslagen die passende Lektüreempfehlung ihrer geliebten Autorin parat. Agathe quält das Gefühl, im falschen Jahrhundert zu leben, so unromantisch und plump erscheint ihr der Umgang unter den Geschlechtern: «Sex Uber ist nicht mein Ding», gesteht sie ihrem Arbeitskollegen Félix entnervt. Als dieser ohne ihr Wissen das erste Kapitel ihres Romans bei einer Ausschreibung einreicht, gewinnt Agathe zwei Wochen in der Jane Austen Writers’ Residency in England. Dort wartet nicht nur eine Auszeit in schönster Kulisse auf sie, sondern auch Austens Ur-Ur-Ur-Ur-Neffe Oliver. Schon bald steckt die angehende Schriftstellerin mitten in einem Roman ihrer Lieblingsautorin – zwischen Stolz, Vorurteil und vielleicht der grossen Liebe. Regisseurin Laura Piani liefert eine so charmante wie humorvolle Hommage an die literarische Grossmeisterin, deren 250. Geburtstag dieses Jahr gefeiert wird. Mit ihrer Version eines Jane-Austen-Romans gelingt Piani eine leichtfüssige Mischung aus französischer und englischer Komödie mit einer bravourösen Camille Rutherford in der Hauptrolle.

Tel Aviv, nach dem Massaker vom 7. Oktober: Von ihrer Kunst können Jazzmusiker Y. und die Tänzerin Yasmin nicht leben. Um sich und ihren kleinen Sohn über die Runden zu bringen, sagen sie zu keinem Auftrag nein und verdingen sich auch gerne mal als sexy Partyclowns mit schrillen Performances für eine dekadente israelische Oberschicht. Als Y. von einem Oligarchen engagiert wird, eine neue Nationalhymne für Israel zu komponieren, die ausdrücklich die Zerstörung Palästinas feiert, wittern sie zwar das grosse Geld. Während über die Bildschirme Nachrichten vom Grauen in Gaza flimmern und sich die Strassen Tel Avivs mit nationalistischer Propaganda füllen, sehen sie sich aber auch mit ihrem moralischen Gewissen konfrontiert … Der nach Paris emigrierte Regisseur Nadav Lapid gilt mit seinen die nationalistische Politik Israels anprangernden Filmen als Enfant terrible. Zügellos und bissig zeigt er in «Yes» sein Heimatland als eine von Krieg und Terror zerrissene Nation zwischen Dekadenz und Zerstörung, Hoffnung und Resignation. Guy Lodge schreibt in Variety: «Lapids neuer Film schockiert durch die schiere Intensität seiner Wut gegen den Staat, die auf seinen Protagonisten projiziert wird. (…) Eine wirbelnde Satire, die zugleich verzweifelt und überschwänglich ist, subtil wie eine Kanonenkugel in ihrer Demontage der herrschenden Klassen und derer, die ihnen gehorchen.»

Carlo alias Gollum ist der stumme Erzähler der Geschichte von Frank und Nina, die auch seine eigene ist. Die drei Jugendlichen bilden eine verschworene Gemeinschaft in der harten Realität der grauen Vorstädte von Mailand. Sie geben ihren Träumen Raum, denn «Realität ist nur eine Frage des Standpunkts». Gollum besprüht die Wände mit poetischen Zitaten aus entsorgten Büchern, Frank erzählt mit Überzeugungskraft absurde Geschichten, während die pragmatische Nina, die bereits Mutter ist und unter ihrem gewalttätigen Ehemann leidet, studieren will, um ein besseres Leben führen zu können. Valerio Caprara schreibt in Il Mattino: «Was für ein märchenhafter und etwas verrückter Film ist doch ‹La storia del Frank e della Nina›. (…) Die Mailänder Regisseurin Paola Randi (‹Beata te›) entfaltet anstelle einer traditionellen Erzählung eine Ballade voll visueller Anregungen und emotionaler Transfers, die durch abwechselnde Farb- und Schwarz-Weiss-Sequenzen die beiden Leitmotive des Films untermalt: die Liebe zu den eigenen Figuren und die Liebe zu Literatur und Kunst, die durch eine Fülle von Zitaten aus Kultfilmen wie ‹Miracolo a Milano› oder ‹Jules et Jim› sowie der Literatur von Italo Calvino und den Kunstwerken von Yayoi Kusama zum Ausdruck kommt.»

Amrum, 1945: Der zwölfjährige Nanning ist mit seiner hochschwangeren Mutter, seinen jüngeren Geschwistern und einer Tante aus dem zerbombten Hamburg ins Elternhaus seines Vaters geflüchtet, der sich in Kriegsgefangenschaft befindet. Die Inselgemeinschaft blickt mit Misstrauen auf die «Festländer», zudem sind Nannings Eltern überzeugte Nazis. Nach Hitlers Selbstmord und der Geburt ihres Kindes fällt die Mutter in eine Depression. Sie will nichts mehr essen ausser Weissbrot, Butter und Honig. Damit sie wieder zu Kräften kommt, setzt Nanning alles in Bewegung, um ihr diesen Wunsch zu erfüllen – in den ersten Nachkriegstagen ein schwieriges Unterfangen. Dabei kommt er einem Familiengeheimnis auf die Spur und wird sich zum ersten Mal bewusst, was es bedeutet, dass die geliebten Eltern Nationalsozialist:innen waren. Fatih Akin («Gegen die Wand») hat mit Hark Bohm («Nordsee ist Mordsee») das Drehbuch geschrieben und für den Freund, der krankheitshalber absagen musste, die Regie geführt. Susanne von Kessel-Doelle schreibt in Blickpunkt:Film: «Fatih Akin schafft es, in der Kindheitsgeschichte Hark Bohms die ganze Tragik einer Generation einzufangen – zutiefst treffend und anrührend in einer Heimatgeschichte, mit Parallelen zu heute und Bildern, die den Zuschauer die Weite Amrums genauso fühlen lassen wie das Innenleben seiner Charaktere.»

Bis in die 1980er-Jahre wurden in der Schweiz hunderttausende Kinder von den Behörden oder ihren Familien in Heimen oder als Verdingkinder bei Bauernfamilien platziert. Die Berner Regisseurin Corinne Kuenzli dokumentiert in ihrem Film einige dieser schweren Schicksale und bringt dabei die Albträume, Familiengeheimnisse und die von Einsamkeit, Gewalt und Sprachlosigkeit geprägte Kindheit und Jugend dieser ehemaligen Heim- und Verdingkinder ans Licht, sowie die Auswirkungen auf deren Söhne und Töchter. Gemeinsam suchen sie nach Akten in Archiven von Vormundschaftsbehörden und Sozialämtern, durchstöbern Dokumente, studieren Fotoalben und stossen dabei immer wieder auf unglaubliche Zeugnisse einer bigotten und heuchlerischen Gesellschaft. So etwa, wenn ein heute 82-Jähriger, der als Baby seiner damals zwanzigjährigen, mittellosen Mutter weggenommen und an neun verschiedenen Orten fremdplatziert worden war, in den Akten liest, die Mutter «scheint überhaupt einen unsittlichen Lebenswandel zu führen». Dass der Bundesrat erst 2013 das an diesen Kindern verübte Unrecht anerkannte und sie um Verzeihung bat und dass die Genugtuungszahlungen sich bis ins Jahr 2024 hinzogen, erfährt man am Ende dieses unter die Haut gehenden Films. Eindrücklich dokumentiert er einen übergriffigen und hartherzigen Staat, dessen Opfer sowie deren Kinder bis heute mit den Folgen zu kämpfen haben.

Im besetzten Westjordanland schliesst sich der junge Noor 1988 einer Protestkundgebung an und wird von einem israelischen Soldaten niedergeschossen. Um zu erklären, wie es dazu kommen konnte, nimmt uns seine Mutter Hanan mit auf eine Reise durch mehrere Jahrzehnte und schildert die bewegende Geschichte ihrer Familie. Von der Vertreibung 1948 aus Jaffa, als Noors Grossvater Sharif mit Frau und Kindern sein stattliches Haus und den Orangenhain der Familie zurücklassen musste und ins Exil gezwungen wurde. Von Noors Vater Salim, der als Kind die Schrecken der Flucht erlebte und in den 1970er-Jahren vor den Augen seines Sohnes Opfer von Gewalt und Demütigung wurde. Vom unermüdlichen Kampf gegen Unterdrückung und vom Ringen um Resilienz, die sich wie ein roter Faden durch die Chronik der Familie bis in die Gegenwart ziehen … Inspiriert von ihrer eigenen Familiengeschichte gelingt der palästinensisch-amerikanischen Regisseurin Cherien Dabis ein tief bewegendes Epos über das generationsübergreifende Trauma der Palästinenser:innen. Mit stiller Kraft und grosser Empathie erzählt sie von drei Generationen im Schatten von Vertreibung, Widerstand und Hoffnung. Dabei verwebt sie persönliche Erinnerung und politische Realität zu einem feinfühligen Plädoyer für Menschlichkeit – und zeigt eindrücklich, wie tief die Wurzeln heutiger Konflikte reichen.

Herr und Frau Tweedy führen auf ihrer Geflügelfarm ein Schreckensregiment. Wer das tägliche Eiersoll nicht erfüllt, wird zu Geflügelpastete verarbeitet. Kein Wunder, dass Henne Ginger und ihre Kolleginnen Bunty, Babs und Mac wild entschlossen sind, dem Hühnerknast zu entkommen. Doch das ist leichter gesagt als getan. Die eingeschränkten Flugkünste der gefiederten Damen sind keine grosse Hilfe und die Tweedys sind durchtrieben. Sie erwischen die Hennen immer wieder, ganz gleich, wie ausgeklügelt deren Fluchtplan war. Doch eines Tages stürzt der amerikanische Zirkus-Hahn Rocky per Bruchlandung in ihr Gehege. Dem charismatischen Burschen gelingt es schnell, die Hennen in seinen Bann zu schlagen, die sich von seinen charmanten Flugstunden viel erhoffen. Doch die Zeit drängt: Eine neue Pastetenmaschine harrt ihrer vernichtenden Aufgabe. Deshalb plant Ginger mit Rocky einen spektakulären und äusserst gewagten Ausbruch. «Die liebevoll-detailversessene Ausstattung, die schon Markenzeichen von Nick Parks oscargekrönten ‹Wallace & Gromit›-Kurzfilmen war, prägt auch ‹Chicken Run›», heisst es auf Filmecho über den ersten langen Knetanimationsfilm aus dem britischen Aardman-Studio.
Die Mitgliedschaft für die Zauberlaterne kann an der Kinokasse gelöst werden. Ausführliche Informationen finden Sie unter www.lanterne-magique.org/de/clubs/st-gallen/.

Cæcilie und Joachim stehen kurz vor der Hochzeit, als ein Autounfall ihre Pläne abrupt zerstört. Joachim liegt gelähmt im Krankenhaus und will in seiner Verzweiflung Cæcilie nicht mehr sehen. Diese findet Trost beim behandelnden Arzt, der mit der Unfallverursacherin verheiratet ist. «Open Hearts» erzählt die Geschichte von vier Menschen, die – mit der Zerbrechlichkeit des Lebens konfrontiert – schuldhaft miteinander verstrickt sind. Mit ihrem klugen, unprätentiösen Drama über die Unplanbarkeit des Lebens und die Macht des Schicksals gelang der dänischen Regisseurin Susanne Bier ein grosser Kinoerfolg. Mit ausgesprochenem Gespür für Atmosphäre und die leise Komik hinter der Tragik stürzt die Spezialistin für raffinierte psychologische Spielanordnungen das Publikum in ein Wechselbad der Gefühle. Bier fokussiert ganz auf die inneren Befindlichkeiten der vielschichtigen Charaktere, hervorragend verkörpert von Schauspielgrössen des dänischen Kinos. «Jeder Moment in ‹Open Hearts› ist von empfindsamer Schmerzhaftigkeit und Wahrhaftigkeit», begeistert sich Oliver Hüttmann im Spiegel, während Marie Anderson auf Kino-Zeit konstatiert: «Ein faszinierendes Stück über menschliche Emotionen und Haltungen angesichts existenzieller Katastrophen, das dem Zuschauer ein leises Memento Mori ins Bewusstsein haucht.»

Der Automechaniker Vahid glaubt, in einem Kunden seinen einstigen Folterer aus dem Gefängnis zu erkennen. Er entführt den Mann in der Absicht, ihn in der Wüste lebendig zu begraben. Doch kurz vor der Tat beschleichen ihn Zweifel, weil er das Gesicht seines Peinigers nie gesehen hat. Er sucht einen ehemaligen Leidensgenossen auf, der die Identität des Entführten bestätigen soll, und setzt damit eine Kette von Ereignissen in Gang, die zunehmend ausser Kontrolle geraten … Der iranische Regisseur Jafar Panahi war 2022 inhaftiert, als er die Idee zu diesem Drehbuch hatte. Als er im Februar 2023 dank internationaler Proteste freikam, machte er sich heimlich an die Realisierung dieses atemberaubenden Thrillers, der trotz seines dramatischen Hintergrunds mit Situationskomik und schwarzem Humor brilliert und in Cannes zu Recht die Palme d’Or erhielt. Joachim Kurz schreibt auf Kino-Zeit: «Panahis emotional aufwühlende Tour de Force ist nicht ausschliesslich als Parabel auf die Zustände in seiner Heimat zu verstehen, sondern auch als Suche nach einem moralischen Kompass für die direkte Konfrontation mit den Autoritäten. Angesichts dessen, was ihm widerfahren ist, (…) ist dieser Film ein beispielloses Fanal von ungeheurem Mut und Behauptungswillen eines Regisseurs.»